Eric Voegelin und das griechische politische Denken

Ich muss mit einem Geständnis beginnen, das viel mehr ist als eine captatio benevolentiae. Etwas dramatisch gesagt, liegt die Aufgabe, die mir an dieser Tagung gestellt worden ist, jenseits meiner Kapazität. Das ist kein Vorwurf an die Organisatoren, denen ich für die Einladung und das Vertrauen, das sie in mich gesetzt haben, sehr dankbar bin, und es fordert natürlich eine Erklärung. Einerseits bringe ich durch meine eigenen langjährigen Arbeiten über die Anfänge des griechischen politischen Denkens, gerade auch in seiner möglichen Abhängigkeit von nahöstlichen Vorbildern, sehr wohl manche der nötigen Voraussetzungen mit. Andrerseits wurde mir bei der Lektüre von Eric Voegelins Order and History, das ich seit langem in meinem Regal stehen hatte, ohne es je studiert zu haben, rasch ein großes Problem bewusst: Ich bin Historiker, und mein Interesse am politischen Denken ist pragmatisch. Ich definiere ‘politisches Denken’ entsprechend sehr weit (als jede Reflektion über Politik, Institutionen, die Gemeinde und den Staat sowie Beziehungen zwischen Bürgern, Gemeinden und Staaten) und gleichzeitig sehr eng (eben ganz auf das Politische bezogen). Ich frage, wie sich das Aufkommen politischen Denkens aus den sozialen und politischen Bedingungen der Zeit erklären lässt, worauf sich dieses Denken konzentrierte, wie es sich entwickelte und wie es umgekehrt die Griechen befähigte, einerseits die Probleme ihrer Zeit in den Griff zu bekommen und andrerseits bewusste Versuche zu machen, ihre Gemeinden so zu ordnen, dass sie diesen Problemen gewachsen waren. Dies sind praktische Fragen. Außerdem gilt mein Interesse ausgesprochen den Anfängen solchen Denkens und damit den Vorstufen der politischen Theorie und Philosophie Platons und des Aristoteles, in denen sich alles Frühere bündelte und zu höchsten Höhen aufschwang und die erst dem griechischen politischen Denken das Potenzial verliehen, eine bis heute prägende Nachwirkung zu entfalten.

Aber was ich leider nicht bin—wie ich zu meinem Schmerz schon als Student feststellen musste—,ist ein homo theoreticus oder philosophicus. Wenn man jedoch Voegelin gerecht werden will, muss man dies sein. Denn Voegelin handelt auch vom politischen Denken, aber unter ausgeprägt theoretischen und philosophischen Vorzeichen und in einem viel weiter gefassten Zusammenhang. Ich zitiere die Herausgeber der deutschen Ausgabe: Voegelin versteht Order and History „im weiteren Sinne als eine ‘philosophische Untersuchung betreffend die Ordnung der menschlichen Existenz in Gesellschaft und Geschichte’ und im engeren Sinne als ein livre de résistance gegen die von ihm diagnostizierte geistige Unordnung seiner Zeit.” Es geht ihm um „die Grundprobleme der conditio humana”.[1] Wie Jan Assmann sagt, will Voegelins „Evolutionstheorie… einen geschichtlichen Wandel auf der Basis einer ahistorischen, überzeitlichen Grundstruktur beschreiben. Geschichte erscheint in dieser Sicht als die Abfolge einer begrenzten Zahl von Paradigmen oder Modellen, denen eine konstante Struktur zugrunde liegt. Diese Grundstruktur konstruiert Voegelin als ein Geviert von Gott, Mensch, Welt und Gesellschaft, zentriert um eine Mitte, die Voegelin ‘being’ (Sein) nennt”.[2] Von hier aus muss Voegelins politisches Denken nicht nur Mensch und Gesellschaft, sondern auch Gott und die Welt umfassen, also weit über das in engerem Sinne ‘Politische’ hinausgehen.

Mehr noch, sein Werk hat, wie betont wurde geradezu „meditativen und mystischen Charakter”. Er war stark „für die ‘religiösen Implikationen’ politischer Ideen” sensibilisiert und überzeugt, „dass sich das Leben des Menschen in politischer Gemeinschaft nicht in ‘Fragen der Rechts- und Machtorganisation’ erschöpft…, sondern dass die Gemeinschaft ‘auch ein Bereich religiöser Ordnung (ist), und die Erkenntnis eines politischen Zustandes in einem entscheidenden Punkt unvollständig (ist), wenn sie nicht die religiösen Kräfte der Gemeinschaft und die Symbole, in denen sie Ausdruck finden, mitumfasst’”.[3] Voegelins Interpretationsanspruch ist somit außerordentlich umfassend; das so verstandene politische Denken wird zum Mittel, in großen Dimensionen ablaufende intellektuelle und geschichtliche Prozesse vergleichend zu verstehen. Wenn „primärer Gegenstand der Geschichte” nicht Ereignisse und „welt-immanente Gegenstände, sondern die ‘transzendente Wirklichkeit’” ist,[4] dann müssen sich auch Geschichtsphilosophie und politisches Denken auf diese transzendente Ebene richten. Auf dieser Ebene kann ich mich weder mit Voegelin auseinandersetzen, noch ihm in irgendeiner Weise gerecht werden.

Was ich tun kann, ist viel bescheidener, aber vielleicht doch nicht ganz unnütz. Ich werde mich darauf konzentrieren zu prüfen, wie weit Voegelins Verständnis von Geschichte und politischem Denken der Griechen heute noch gültig und tragfähig ist. Der zweite Band von Order and History wurde ja 1957, also vor mehr als fünfzig Jahren publiziert, und das ist beinahe eine Ewigkeit her. Natürlich schrieb Voegelin vom Kenntnisstand seiner Zeit aus—den er sich, wie sich aus seinen Anmerkungen ergibt, sorgfältig angeeignet hatte—, und es wäre kleinlich, ihm jetzt vorzurechnen, in welchen Hinsichten dieser Kenntnisstand nicht mehr dem heutigen entspricht. Es geht mir um Wichtigeres: ob und wie weit sein Verständnis der Entwicklung von Geschichte und politischem Denken der Griechen die Folgerungen noch zu tragen vermag, die er daraus zog.

Ich tue dies facettenartig, indem ich einzelne wichtige Themen herausgreife: die historische Erinnerung der Griechen, Homer, die Polis, die Götter, die Historiker. In manchem entsprechen diese Schwerpunkte denen, die auch Jürgen Gebhardt in seinen ausgezeichneten Epilogen zu Band 4 und 5 der deutschen Ausgabe gewählt hat.[5] Der meine Überlegungen einigende thematische Leitfaden ist Voegelins Überzeugung, dass die griechische Geschichte von einem steten Niedergang geprägt war, von einer Reihe von ‘tödlichen Krisen’, die jeweils die Denker zwangen, in neue Dimensionen des Verständnisses menschlichen Seins vorzustoßen.

Es liegt in der Natur solcher Diskussionen, dass sie sich auf Kritik und Auseinandersetzung beschränken und das Gute und Nichtkontroverse stillschweigend übergehen. Ich möchte deshalb betonen, dass es enorm Vieles gibt, was ich an Voegelins Interpretationen bewundere. Schließlich bitte ich Sie zu bedenken, dass ich ein Neuling in Voegelins Gedankenwelt bin; ich habe mich für diesen Vortrag ganz und fast nur auf Voegelins eigenen Text konzentriert.

II.

Um gleich zu konkretisieren, was ich eben sagte: Es ist beispielsweise kaum sehr wichtig, dass wir uns heute die sogenannte Dorische Wanderung in den frühen Dark Ages anders vorstellen als vor fünfzig Jahren. Oder dass wir für die Ägäis des dritten Jahrtausends kaum von „Stadtkulturen” im Sinn der nahöstlichen Zivilisationen sprechen können (OG IV, 77-78). Wichtiger ist, was wir wissen können und worauf sich solches Wissen gründet. Voegelin gibt etwa zu, dass das Vorkommen der Lilie in minoischen Gemälden keinen Einblick in die „Spekulationsstränge” bietet, die die Kreter mit diesem Symbol assoziierten, behauptet aber dennoch, dass „schon ihre Existenz beweist, dass die Beschäftigung mit diesem Problem von Ursprung und Macht zumindest in Priesterkreisen wohl recht weit gediehen war” (OG IV, 82-83). Obschon er versteht, wie wenig wir jenseits der Paläste über die Struktur und Ordnung der minoischen Gesellschaft wissen, folgert er: „Auf dieser begünstigten Insel erwuchs in kleinem Rahmen jener Ordnungstypus, den Platon sich als ein Bündnis von ganz Hellas vorstellte; und aus diesem Winkel des Stadtkulturgebietes erwuchs die griechische Gesellschaft, die im Gefolge von Alexanders Eroberung die Welt vom Mittelmeer bis Indien hellenisierte” (OG IV, 86).

Ich komme hier nicht mit—ganz abgesehen vom tiefen Bruch der ‘Dunklen Jahrhunderte’, dessen Auswirkungen Voegelin radikal unterschätzt. Die Forschungsdebatte über Kontinuität und Diskontinuität von der Bronze- zur Archaischen Zeit dauert an.[6] Aber heute würden doch nur ganz wenige mit Voegelin behaupten, dass es „die große Leistung der achäischen (also bronzezeitlichen, mykenischen) Aristokraten” war, die sich vom Festland nach Ionien gerettet hatten, „ihre Überlieferung, wie modifiziert auch immer…,” bewahrt und die „Aufrechterhaltung der zivilisatorischen Kontinuität mit der mykenischen Gesellschaft und durch sie mit den minoischen Phasen der griechischen Gesellschaft” gewährleistet zu haben. Gerade in den entscheidenden Bereichen der Zivilisation war der Bruch tief und dauernd: am Ende der ‘Dunkeln Jahrhunderte’ begann eine ganz neue Phase der griechischen Geschichte. Der vieldiskutierte Fall des Trojanischen Krieges zeigt, dass in diesen Umbrüchen auch Erinnerung und Überlieferung tief und unumkehrbar verformt wurden.[7]

Auch dies wäre aufs Ganze gesehen kaum wichtig, wenn die Kontinuität nicht für Voegelins Vision des gesamten Ablaufs der Geschichte und ihrer Wahrnehmung durch die Griechen wesentlich wäre. Er sieht diesen Ablauf als einen in einer idealen Frühzeit (eben der minoischen Kultur) beginnenden steten, aber von einzelnen Katastrophen wie dem Trojanischen oder Peloponnesischen Krieg akzentuierten und beschleunigten Niedergang, der schließlich den „Seinssprung“ in die Ordnungstheorie und Philosophie Platons möglich und nötig machte. Man muss sich deshalb darüber klar sein, welche Art von Erinnerung die Griechen an diese und andere Vorgänge ihrer Frühzeit hatten.

Hinweise auf eine bis zu Minos, dem legendären Seeherrscher auf Kreta, zurückreichende Frühgeschichte finden sich in Thukydides’ ‘Archäologie’ und in Platons Kritias; in den Gesetzen ist einer der Diskussionsteilnehmer ein Kreter. Weithin wurde in der Antike angenommen, dass die aus einer erstaunlich realitätsblinden Perspektive oft idealisierte Verfassung Spartas auf kretische Modelle zurückging. Voegelin folgert aus alledem, dass es in Griechenland eine weit, bis ins zweite oder gar dritte Jahrtausend zurückreichende ‘Rückerinnerung’ gab, und dass diese nicht nur weit verbreitet, sondern auch substanziell und detailliert war (OG, IV, 67ff.): „die klassische Erinnerung der griechischen Geschichte [ist] keine archaistische Rekonstruktion von im Volke längst vergessenen Begebenheiten, sondern die Organisation einer lebendigen Erinnerung, die allein kraft ihrer Existenz beweist, dass das Kontinuum der griechischen Geschichte real ist” (OG IV, 69). Fritz Schachermeyr vertrat damals ganz ähnliche Ansichten.[8] Auf diese Art von Erinnerung stützten sich nach Voegelins Erachten die griechischen Denker, als sie in der Niedergangszeit der hellenischen Zivilisation im 5. und 4. Jh. ihre als Alternative zur gegenwärtigen Unordnung gedachten philosophischen Ordnungsvorstellungen entwickelten: diese stützten sich somit nicht unwesentlich auf die Rekonstruktion einer erinnerten Vergangenheit.

Zum einen ist zu beachten, dass Griechen und Römer Reform nie als Neuerung präsentierten, die den Geruch des Umsturzes, der Revolution in sich trug, sondern immer als Rückkehr zu guten alten, nur leider verlorenen, Zuständen. Zum andern sehen die meisten Historiker heute die Frage der ‘Rückerinnerung’ wesentlich anders. In der Folge intensiver Diskussionen über die Art und Entwicklung von historischem und kulturellem Gedächtnis hat sich die Zeitspanne lebendiger historischer Erinnerung dramatisch verkürzt (auf etwa ein Jahrhundert); was davor liegt, ist anekdotisch (auf einzelne herausragende Ereignisse oder Personen reduziert) oder mythisch und als solches, auch wenn sich darin historische Vorgänge verbergen mögen, in nicht mehr rekonstruierbarer Weise verformt. Gewiss, die Griechen wussten, dass die Dorier ursprünglich nicht in der Peloponnes gesiedelt hatten, dass es einmal eine Gesellschaft gegeben hatte, die Bronze und Streitwagen benützte, gewaltige ‘Zyklopenmauern’ errichtete und ihre Zentren in Mykene, Lakonien und Pylos hatte, und dass vor langem Kreta eine wichtige Rolle gespielt hatte. Aber dieses ‘Wissen’ beschränkte sich auf wenige grundlegende Fakten, die dann in verbreiteten Mythen mit unhistorischen Details gefüllt und von Dichtern und später von Historikern und Philosophen in je verschiedener Weise durch die für sie wesentlichen Aspekten ergänzt wurden.

Während Voegelin beispielsweise noch (im Gefolge der 1. Auflage der Cambridge Ancient History) die Auffassung vertrat, dass „die aus den [Linear B-] Tafeln ableitbaren Fakten… genügen…, die Existenz einer achäischen Gesellschaft von substantiell dem Typ nachzuweisen, der in Homers Epos erscheint”, und von der „Zuverlässigkeit der Gedichte als Geschichtsquellen” schrieb (OG IV, 89, 96), wies Moses Finley gleichzeitig stringent nach, dass die Epen (trotz einzelner sich vor allem auf die materielle Kultur beziehender Erinnerungs fetzen) eine viel spätere, dem Dichter zeitlich und strukturell näher stehende Gesellschaft schildern.[9] Was wir bei Thukydides und Platon lesen, ist somit insgesamt nicht eine auf substanzieller Erinnerung beruhende Rekonstruktion, sondern eine in ein minimales Rohgerüst faktischer Erinnerung eingepasste Konstruktion. Daran ändert auch der unglückliche Versuch von Joachim Latacz[10] nichts, mittels der ‘Zwangsjacke’ hexametrischer Dichtung die Bewahrung ganzer Erzählinhalte über die tiefen Brüche der Dark Ages hinweg zu postulieren. Dies wiederum hat für Voegelins Geschichtsauffassung wesentliche Konsequenzen.

III.

In der Symbolik der „Philosophie“ (OG IV, 17) und nicht in der Institutionalisierung von Ordnung in der Polis – noch gar in der erfolgreichen Perserabwehr – war nach Voegelin ein Symbolismus für den Ausdruck einer wahren und wissenschaftlich für alle Menschen gültigen Ordnung gefunden (OG IV, 48). Dieser aber hatte tief in der Zeit vergrabene Wurzeln (OG IV, 49). Gewiss muss unsere Suche sich „auf die Zeit konzentrieren…, in der die Gefahren für Freiheit und Überleben der Gesellschaft das Problem ihrer Ordnung zum allgemeinen Thema der Diskussion machten, sowie auf literarische Quellen, in denen das Problem zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung mit einem Maximum an Artikulation gemacht wurde”, aber man darf sich nicht deswegen auf die Quellen des 5. und 4. Jh. beschränken, weil dort der Beitrag der Griechen zur politischen Wissenschaft zu liegen scheint (OG IV, 53). Auch deshalb rückt die Frühzeit ins Zentrum.

Voegelin geht davon aus, dass politisches Denken sich in Krisenzeiten sprunghaft entwickelt und dass der Durchbruch zu universellen Ordnungsvorstellungen sowohl in Israel wie in Griechenland in solchen Krisenzeiten erfolgte. Daraus jedoch scheint sich nun eben eine Konzeption ergeben zu haben, die die griechische Geschichte aus einer sozusagen ‘reinen’ kretischen Urzeit in einen stetigen und sich verstärkenden Niedergang münden lässt. Es war genau die Erfahrung solchen Niedergangs, die die je konstruktivsten Denker dazu zwang, sich auf eine recherche du temps perdu zu begeben und dieses letztendlich in jener Urzeit zu finden. Und diese Suche beginnt bereits mit Homer.

Ich finde Voegelins Homer-Interpretation wunderbar und habe daraus viel gelernt. Er sieht richtig, dass es in Ostgriechenland war, im Grenzland zum Orient, wo „die Ilias ihre zugespitzte Interpretation als Epos des großen Kampfes zwischen Europa und dem Orient” erhielt, und dass das „pan-achäische Bündnisunternehmen gegen Troja … zum lebendigen Symbol einer pan-hellenischen kulturellen und sogar prekären politischen Verbindung” wurde (OG IV, 56). Was er im einzelnen zu Achilleus, Paris, Helena und andern, zur berühmten diapeira im 2. Buch, zu den Störungen in den Entscheidungsmechanismen, zur Rolle des Volkes, zu Verblendung, Reue, Zorn und vielem andern sagt, ist insgesamt eindrucksvoll. Ich stimme ihm auch zu, wenn er in diesen Epen einen Versuch sieht, „den Ruhm der Vergangenheit zur Richtschnur für [die] Gegenwart und Zukunft” zu machen. Aber Voegelin geht viel weiter. Er sieht im Epos den Versuch der Nachkommen des mykenischen Adels, ihre „Vergangenheit zurückzugewinnen” und „eine ägäisweite Gesellschaft, in Kontinuität mit den früheren Zivilisationsgesellschaften” zu bilden, indem „das Bewusstsein einer gemeinsamen ägäischen Ordnung im Sinne der minoisch-mykenischen Vergangenheit geweckt wurde”; „dieses Kunststück [wurde] durch die Schaffung des Homerischen Epos tatsächlich vollbracht” (OG IV, 93f). 

Die Frage, welches Interesse die ionischen Adligen an den Grosstaten einer längst untergegangenen Gesellschaft haben konnten, findet eine Antwort „im Akt der Transfiguration…, der beide Gesellschaften zu einer verknüpft.” Hier kommen wir zum Kern von Voegelins Homer-Interpretation. Der Dichter wählte eben zu seinem Gegenstand „kein glorreiches Unternehmen, sondern eine Episode der Unordnung, welche die Katastrophe ankündigte, die die mykenische Zivilisation überwältigen sollte… Die Ilias… liefert eine paradigmatische Untersuchung der Ursachen für den Niedergang in der ägäisweiten mykenischen Ordnung.” Homers Achäer und Trojaner gehören der gleichen Gesellschaft an; der Krieg ist im Grunde ein Bürgerkrieg. Dies ist in manchem richtig, aber zu einfach. Denn der Dichter bemüht sich gleichzeitig, die Trojaner als ‘nichtgriechische Griechen’ und damit, trotz aller Ähnlichkeiten, in ihrer ‘Alterität’ zu charakterisieren; nur so kann der Krieg zum epochalen West-Ost-Konflikt werden. Dem Zwist der Menschen, so Voegelin weiter, entspricht der Zwist der Götter und „enthüllt eine universelle Ordnung… in Verfall und Verurteilung.” Dieser Katastrophe entrang der Dichter „seine Einsicht in die Ordnung von Göttern und Menschen, aus dem Leiden erwuchs” in Dichtung geformte Weisheit. „In diesem Akt der Transfiguration tranzendierte der Dichter die achäische Gesellschaft” und „die Symbolform des olympischen Mythos”, in dem Hellas sich konstituiert hatte, „und schuf die hellenische Symbolform” als Philosophie und „Symbolform der Menschheit” (OG IV, 102f). Homer wird damit unmittelbar zum Vorgänger von Aischylos und Platon.

Hier spricht Voegelin der Philosoph, souverän und abgehoben—und lässt mich weit hinter sich. Aber nur unter dieser Voraussetzung—dass im epischen Geschehen der Fall der mykenischen Zivilisation analysiert wird—ist es zu verstehen, dass sich für Voegelin die Gesellschaft Homers im Niedergang und Verfall befindet (OG IV, 104, 110) und ihm die irrationale Verantwortungslosigkeit der Hauptakteure als Symptom einer unwiderruflich gestörten und zu Ende kommenden Ordnung gilt (OG IV, 116). Der Name Homers steht eben letztlich nicht für den Autor eines Werkes, sondern für die „Schaffung eines Symbolismus, der eine neue Erfahrung menschlicher Existenz unter den Göttern, der Natur der Ordnung und der Ursachen der Unordnung sowie des geschichtlichen Niedergangs und Falls einer Zivilisation ausdrückt” (OG IV, 98). Ich lasse das Problem der göttlichen Inspiration und schon gar deren Vergleichbarkeit mit „der Relation zwischen dem israelitischen Propheten und dem Wort Jahwes” (OG IV, 98ff.) hier beiseite. Aber die Idee einer permanent gestörten Ordnung scheint mir unnötig und unzutreffend; sie ist dem Werk durch den Interpreten aufoktroyiert.

Ich selber bleibe auf einer bodennäheren Ebene. Homers Epen konnten ja nur deshalb ihre bis heute andauernde Attraktivität bewahren, weil sie allgemein menschliche Konflikte behandeln, mit denen das Publikum sich identifizieren konnte und kann. Auch zur Zeit des Dichters musste etwa das Problem aktuell sein, dass in einer Polis der mächtigste Anführer und der beste Krieger Rivalen waren und durch ihren selbstsüchtigen Ehrgeiz das Wohl der Gemeinde aufs Spiel setzten. Aber dieses Problem konnte eine Lösung finden, und die führt der Dichter vor, indem Agamemnon nach seinen zwei horrenden Fehlern Einsicht gewinnt, den Rat seiner Mitadligen sucht und befolgt und am Ende die Einigung zustande bringt, die den Erfolg der Achäer sicherstellt. Deshalb nennt Odysseus ihn am Schluss „gerechter” (dikaioteros, Ilias 19,181-83): jeder macht Fehler; indem Agamemnon es fertig bringt, seine Fehler zu überwinden und aus Spaltung Einheit zu schaffen, hat er eine höhere Stufe der Gerechtigkeit erreicht. Nebenbei gesagt, führt uns der Dichter in Hektor eine gegenläufige Entwicklung vor, aber das kann ich jetzt nicht ausführen.[11]

Was uns der Dichter hier zeigt, sind typische Verhaltensweisen, gute und schlechte, mit ihren Konsequenzen für die Gemeinde. Die Ordnung ist in solchen Fällen gestört, zum Teil mit fatalen Konsequenzen für Individuum wie Kollektiv, aber nur zeitweilig. Die andern Anführer erkennen in Achilleus’ Verhalten nicht, wie Voegelin denkt, „die Drohung einer tödlichen Zerstörung” (OG IV, 119), sondern eine bedauerliche, aber verständliche und als Extremform akzeptierter Normen sogar berechtigte Reaktion auf eine ungerechtfertigte Provokation. Solche Krisen verursachen Verluste (an Ehre und Männern), können aber auch zu einem positiven Ergebnis führen, und es lassen sich daraus Lehren ziehen, die vielleicht eine Wiederholung verhindern können. Ich sehe hier also keine permanent gestörte Ordnung, und kein „Ende der Ordnung und Zivilisation” (OG IV, 123). Noch scheint mir dies subjektiv, aus der Perspektive des Dichters und seiner Zuhörer, gegeben.

Sind dies einfach Meinungsunterschiede, wie sie bei der Interpretation literarischer Werke üblich sind, oder geht es um Grundsätzlicheres? Ohne Zweifel um Letzteres. Voegelin zwingt uns zur Entscheidung, ob wir mit ihm Homer als Analytiker des Untergangs der mykenischen Zivilisation und damit als Theoretiker des Aufstiegs und Falls von Zivilisationen sowie als ‘Aitiologen’ der Unordnung sehen können (OG IV, 130ff.). Diese Gesamtdeutung ist unhaltbar. Voegelin scheint zwar seine Schlüsse sorgfältig aus der Interpretation des epischen Textes abzuleiten, aber er wird bei dieser Interpretation doch durch seine theoretischen Vorgaben und den darin postulierten großen Zusammenhang bestimmt. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die Götterversammlung im 4. Buch der Ilias, in der Zeus seinen Widerstand gegen die Zerstörung Trojas aufgibt, weil Hera ihm erlaubt, Argos, Mykene oder Sparta zu zerstören, wenn er dies wünscht (Il. 4,1-67). Das bereitet gewiss Kopfzerbrechen.[12] Voegelin freilich sieht diesen Kompromiss und die Zerstörung Trojas als den „ersten Schritt in einem größeren Programm” der Städtezerstörung und die „Hauptbeschäftigung” der Götter im „Zerstören der mykenischen Zivilisation” (OG IV, 127, 139f.). Dieser Schluss, meines Erachtens völlig verfehlt, ist nur möglich, wenn man Homer eine Funktion zuweist, die weit über die eines früharchaischen Dichters und intelligenten, kritischen Denkers hinausgeht und ihn eben ausgeprägt zum Vorgänger der Historiker und Philosophen macht.

IV.

Ich habe dies so eingehend besprochen, weil sich Ähnliches bei der Diskussion späterer Autoren wiederholt. Ich überspringe dabei Hesiod, in dessen Interpretation durch Voegelin ich wiederum vieles finde, das mich beeindruckt und überzeugt. Dass man in Hesiods Spekulation und Ermahnung eine Reaktion auf die Ungerechtigkeit und moralische Korruption der Mächtigen zu sehen hat, ist gar nicht zu bezweifeln. Ich gehe gleich weiter zu den Dichtern und frühen Philosophen, konzentriere mich aber auf Voegelins Sicht der griechischen Polis.

Als Vorspann zu seiner Diskussion „der hellenischen Beschäftigung mit der Polis-Ordnung” bespricht Voegelin die Institution und Geschichte der Polis, die Vielfalt der Institutionen, und die Versuche, „den Provinzialismus der Form durch größere regionale Organisationen zu überwinden” (OG IV, 143ff.). Dies ist aufschlussreich. Voegelin denkt von den Territorialstaaten und Reichen des Nahen Ostens her und auf dieselben übergreifenden Organisationsformen späterer Jahrhunderte hin, vom Hellenismus bis zur Moderne. Die Polis, lange das dominante kulturelle Paradigma der Griechen (OG IV, 147), erscheint so als eine historische Sackgasse. Darin hat Voegelin auch heute Nachfolger,[13] aber für ihn ist es eher eine Zwangsjacke, die der weiteren Entfaltung des menschlichen Geistes zu enge Grenzen setzte. In ihrer Verwurzelung in aristokratischer Kultur und gentilizischen Formen sieht er „die grossen Hindernisse für die Entwicklung der Polis zu einem territorialen Nationalstaat” (OG IV, 151).

Voegelins Interesse gilt deshalb weniger der Polis selbst und dem, was sie durch ihren in der Antike fast einzigartigen Charakter zur Entwicklung politischen Denkens beitrug, als ihrem Versagen in der Herausbildung größerer Strukturen. Fast sarkastisch kommentiert er etwa die die Brutalität des Krieges reduzierenden Regeln der delphischen Amphiktyonie: „Es besteht kein Anlass zum Jubeln”, sondern „Grund zum Befremden, dass solche Regelungen das Beste waren, was man in Richtung auf eine nationale Einigung erreichen konnte.” Man darf den Todeskampf nicht übersehen, der zwischen den Poleis permanent stattfand (OG IV, 154).

Andrerseits sieht Voegelin die Entwicklung des politischen Denkens ganz in Opposition zur Polis. Entscheidend waren „die Anstrengungen einzelner Menschen, die jenseits der Ordnung der Polis die Ordnung der menschlichen Psyche entdeckten und ihre Entdeckung in der symbolischen Form artikulierten, die sie Philosophie nannten.” Die Philosophie war „mehr als eine intellektuelle Bemühung”; sie brachte „bestimmte Ordnungserfahrungen in Opposition zur Polis zum Ausdruck”. „Die Spannung zwischen dem Hellas der Dichter und Philosophen und der Polis, zu der sie sich in Opposition befanden, war die eigentliche Form der hellenischen Zivilisation” (OG V, 21). Natürlich weiß Voegelin, dass „die Wurzeln der Philosophie in der Ordnung der Polis liegen” und sich diese Philosophie innerhalb des institutionellen Rahmens der hellenischen Polis artikulierte, aber das war für die Philosophie „eine Bürde”, und die Institutionen der Polis blieben „ein die Erforschung der Ordnung einschränkender Faktor” (OG V, 21f.).

Gewiss kann man diese Auffassung mindestens teilweise vertreten. Nur kann sie nicht in dieser Allgemeinheit gelten, weil sie dem Denken nicht weniger archaischer Denker widerspricht, weil die Kritik an ethischen und politischen Verhaltensformen sich nie gegen die Polis also solche richtet und weil sie selber eine „Bürde” und „Einschränkung” darstellt, indem sie dem Betrachter den Blick auf eine ungemein wichtige Dimension verbaut (darin ist, glaube ich, Jürgen Gebhardt mit mir einig). Was Voegelin aus dem Auge verliert, ist das, was aus einer andern Perspektive die Herausbildung der hellenischen Kultur überhaupt erst möglich macht. Der Gegenpol zu Voegelin liegt in Christian Meiers Kultur um der Freiheit willen. [14] Was ich meine, ist die Polis als Bürgergemeinde, die schon bei Homer sichtbar ist, in Gesetzen als Agent in Erscheinung tritt („das hat die Polis beschlossen”—so beginnt das früheste erhaltene Gesetz) und in kollektiver Gesetzgebung aufgrund kollektiver und öffentlicher Beratung und Entscheidung das Mittel findet, ihre Ordnung selber zu bestimmen und zu verändern. In diesen Rechts- und Gemeindeordnungen, die nicht von oben aufoktroyiert sondern aus der Mitte der Bürger gestaltet werden, liegt ein ungeheures Potenzial kreativer Neuerung; von hier aus wird es möglich, jenseits der Souveränität des Volkes die Souveränität des Gesetzes zu postulieren: nomos basileus, das Gesetz ist König.[15]

Natürlich ist diese von immer größeren Kreisen des Volkes bestimmte Ordnung unbequem, findet sich vieles, worüber die Dichter und Philosophen sich ereifern können, aber ohne die Polis hätte es weder diese Dichter und Philosophen noch den „Seinssprung“ in die universale Philosophie Platons gegeben. So gesehen, stellt die Polis keine Einschränkung, sondern eine unabdingbare Voraussetzung und Befähigung dar, trotz ihrer Mängel. Es ist schade, dass Voegelin diesen gerade auch für die Entwicklung des politischen Denkens entscheidenden Faktor so sehr unterschätzt hat. Weshalb er dies tat, verstehe ich, aber hier erweist sich eben seine große welthistorische Perspektive als ein Hemmschuh.

V.

Stattdessen sind es bei Voegelin ausschließlich die einzelnen Denker, die einer Betrachtung würdig sind—in teilweise bestechenden Interpretationen: Solon, Xenophanes, Parmenides, Heraklit. Hier ist vielleicht der Ort, ein wichtiges Problem aufzubringen, zu dessen gründlicher Besprechung mir freilich die Kompetenz fehlt. Das ist die Rolle, die Voegelin in der Entwicklung des politischen Denkens dem Verhältnis der Menschen zu den Göttern zuweist (ich habe eingangs darauf hingewiesen), etwa seine Feststellung, dass der „Seinssprung“ in Israel und bei den Griechen „die Ordnung des Menschen unmittelbar unter Gott” stellte: in Hellas unter der Symbolik der Philosophie (OG IV, 17) in der Form der Existenz nicht eines Volkes, sondern von „Individuen unter Gott” (OG V, 21). 

Zweifellos spielt bei vielen griechischen Denkern das Element des Göttlichen eine wichtige, wenngleich komplexe Rolle. Das Problem der Theodizee etwa hat viele beschäftigt, und die Spannung von göttlicher Fremdbestimmung und menschlicher Selbstbestimmung ist in der Tragödie zentral. Dazu kommt die Bedeutung Delphis und Olympias gerade in der archaischen Zeit. Andrerseits könnte man von Stellen ausgehen, die auch Voegelin für wichtig hält (dem Anfang der Odyssee oder Solons Eunomia-Elegie), und die betonen, dass eben nicht die Götter, sondern die Menschen selbst für ihr Schicksal verantwortlich sind.[16] Das ‘göttliche Element’ könnte also im strikten politischen und Rechts-Denken von Anfang an relativ schwach gewesen sein und sich später weiter abgeschwächt haben. Schon bei Hesiod reagieren ja die Götter lediglich auf die Rechtlosigkeit der Menschen: Dike, die Rechtsgöttin, von der Erde vertrieben, veranlasst ihren Vater Zeus, die Missetäter und ihre Gemeinden zu bestrafen. Die frühen Poleis ermangelten ausreichend ausgebildeter Institutionen, die Durchsetzung des Rechts zu gewährleisten; hierfür mussten zunächst die Götter einspringen.

Aber wenig später geht der Athener Solon einen entscheidenden Schritt weiter. In der politischen Eunomia-Elegie postuliert er als theoretische Grundlage für seine Reformen einen ‘autonomen’, ganz auf der menschlichen Ebene ablaufenden Kausalprozess, der verbrecherisches Handeln der Bürger zwingend (nach der Art von Naturgesetzen wie der Abfolge von Blitz und Donner) mit dem Unglück der Gemeinde verbindet und niemanden von den Konsequenzen ausnimmt. Hier erscheint Dike als selbständig handelnder Rachedämon: sie sieht und weiß, was geschieht, und wird mit Gewissheit (pantōs) kommen und die ganze Polis mit ihrer Strafe überziehen. Dike wird fast zum abstrakten Prinzip: das Recht wird sich gewisslich durchsetzen, und keiner kann sich entziehen.[17] Um die Konsequenz bewusst provokativ zu formulieren: damit werden die Götter im strikt politischen Denken der Griechen weitgehend zu einer metaphorischen Funktion als Denkmodell und zur Erklärung von Restbeständen relegiert.[18] Ein ähnlicher Übergang wird sich 150 Jahre später bei den Historikern vollziehen, wo Herodot trotz bereits ausgeprägter politischer Denkformen dem ‘göttlichen Element’ (to theion) noch eine wichtige Rolle zuweist, während der nur wenig jüngere Thukydides dieses Element fast völlig aus seinem Erklärungsrepertoire verbannt.

Aber Voegelin denkt eben nicht ‘rein politisch’; in seiner Definition politischen Denkens hat das Religiöse einen zentralen Platz. Dennoch frage ich mich, ob ihn nicht vielleicht der Wille, trotz aller Gegensätze die „Seinssprünge“ in Israel und Griechenland als Parallelen zu sehen, dazu veranlasste, dem Göttlichen auch im politischen Denken der Griechen besonders hohe Bedeutung zuzumessen. In seiner Homer-Deutung ist das eklatant der Fall. Aber auch der Gott der platonischen Dialoge scheint mir himmelweit vom Gott Israels entfernt, und der „Fortschritt zur Gottesnähe” (Opitz) in der griechischen Philosophie gleicht vielleicht nur scheinbar dem entsprechenden Schritt in Israel. Ich verstehe, weshalb dieser Aspekt für Voegelin so zentral ist, finde ihn jedoch in der Anwendung auf die Griechen nicht unproblematisch. Aber dies durch eine detaillierte Diskussion zu substanziieren, würde, wie gesagt, weit über meine Kompetenz hinausgehen.

Weil Voegelin eben eine scharfe Eingrenzung des politischen Denkens auf das Politische fernliegt, ist ihm bei der Diskussion Solons die Musenelegie wichtiger als das EunomiaGedicht, während letzteres in meiner Sicht geradezu einen epochalen Durchbruch darstellt. Deshalb auch ist in Voegelins Sicht der Entwicklung dieses Denkens die „Entdeckung der Seele“ ein zentrales Thema.[19] Man muss Voegelin auf dem von ihm abgesteckten Territorium begegnen, wenn man ihm gerecht werden will. Ich stelle deshalb das Thema der ‘Ordnung unter Gott’ nur als Frage in den Raum, melde meine Zweifel an, versuche aber keineswegs, diese Frage selber zu beantworten.

VI.

Nun doch noch zu den Historikern. Im Sokrates-Kapitel spricht Voegelin von der „Verderbtheit der Polis, wie sie von Thukydides beschrieben wurde, [und die] zum größten Hindernis einer Reform im Rahmen konstitutioneller Formen geworden [war]... Macht und Geist hatten sich in der Polis so weit voneinander entfernt, dass eine Wiederzusammenführung mit konventionellen Mitteln unmöglich geworden war” (OG VI, 23). Deshalb spricht Sokrates eben als „Repräsentant der göttlichen Macht von Hellas”, also von Delphi. Was aber denken die Historiker selbst?

Voegelin betont die Parallele zu Homer: „Wieder einmal waren die Gesellschaften des ägäischen Gebiets in einen großen Krieg verwickelt; und wieder gerieten sie als ein Ganzes in den Blick, als die ihnen zugemessene Zeit abgelaufen war und der sichtbare Verfall dazu herausforderte, den Ursachen dafür nachzugehen” (OG V, 209). Die Historiker des 5. Jh. waren sich „des Dramas der Menschheit, das [hier] inszeniert wurde, ebenso bewusst wie der Dichter der Ilias” (ebd.). Allerdings ist die Welt des Historikers von Mannigfaltigkeit (an Völkern, Zivilisationen, Ordnungen und Göttern) geprägt. Hier findet, „beflügelt von Furcht und Gier, von Leidenschaft und Hoffnung”, ein gnadenloser Machtkampf statt. „Eine solche Welt droht auseinander zu brechen in individuelle und nationale Machtzentren, die ohne einen erkennbaren Sinn entstehen und stürzen” (OG V, 210).

Voegelins Frage ist also, „wie die Historiker versuchen, den Sinn für das gemeinsame Drama in einer Welt ohne Götter zu bewahren, indem sie ihm in philosophischen Kategorien Ausdruck verleihen” (ebd.). Herodot formuliert seine Geschichtstheorie nicht diskursiv, sondern fasst sie in kurze programmatische Aussagen (OG V, 212). Sein Grundprinzip beruht auf einer historischen Dynamik, die sich auf frühe Theorien einer kosmischen Dynamik zum Ausgleich von Recht und Unrecht zurückführen lässt: Jeder agiert in einem allgemeinen Streit; „für den Erfolg muss der Preis der Niederlage bezahlt werden, die einem der nächste Sieger zufügt, der seinerseits in der Verkettung von Aufstieg und Niedergang zu Fall kommen wird” (OG V, 214). Dafür findet Herodot die Metapher des Rades (kyklos, 1, 207)—“die Geschäfte der Menschen sind wie ein Rad, das sich dreht und nicht duldet, dass dieselben Menschen immer glücklich sind” (OG I, 207)— oder auch der Wellenbewegung in einem steten Auf und Ab— die Städte, die heute klein sind, waren einmal groß, und umgekehrt; deshalb muss man beide beachten (Hdt. 1.5, OG I, 5).

Die Triebkräfte, die das Rad sich drehen lassen, sind in Herodots Sicht Reichtum, Herrschsucht und Expansionsdrang, der „nackte Machttrieb” (OG V, 215). Der Expansionstrieb liegt in der Menschennatur, aber es sind die Götter, die nicht zulassen, dass die ganze Welt unter einem Willen geeinigt wird. Krieg und Selbstzerfleischung der Menschen müssen weitergehen; den Persern werden die Athener folgen. Der in der Erzählung sichtbare Ablauf und Sinn der Geschichte wird durch entsprechende Reden verdeutlicht (OG V, 217ff.). Die „Umdrehungen des Rades… [sind] unerbittlich… Herodots Pessimismus” ist unverkennbar (OG V, 222).

Daraus kann man auch ohne Voegelins expliziten Hinweis folgern, dass die Ordnung unwiderruflich gestört, der Niedergang unaufhaltbar ist. Hier scheint mir Voegelin freilich Wesentliches zu übersehen. Da ist zum einen der Aspekt der Warnung und Belehrung. Jeder Aufstieg provoziert ja seinerseits den Aufstieg eines andern, der den Niedergang des zuvor Mächtigen verursacht: auf die Perser folgen die Athener, auf deren meteorhaften Aufstieg zur Weltmacht unweigerlich, so impliziert es der Zyklus, ein Abstieg folgen wird. Rad oder Wellenbewegung des immerwährenden Auf- und Abstiegs enthalten somit eine Warnung und Lehre. Um es seinem Publikum zu erleichtern, dies im Kaleidoskop der geschichtlichen Vorgänge zu erkennen, kleidet der Historiker es in ein sich wiederholendes historisches Grundmuster, das er an den Perserkönigen von Kyros bis Xerxes illustriert: All diese Könige sind von grenzenlosem Eroberungshunger getrieben; sie missachten Vernunft oder Warnungen und überschätzen ihre Kapazitäten maßlos. Sie unternehmen Eroberungszüge, die sie zwingen, große natürliche Hindernisse (wie Flüsse, Meere oder Wüsten) zu überwinden und in Länder einzudringen, die sie nicht kennen und die nicht den ihnen vertrauten Natur- und Kulturverhältnissen entsprechen. Sie erleiden deshalb verheerende Niederlagen.

Herodot gestaltet hier aufgrund einer politisch motivierten Interpretation die Vergangenheit so aus, dass sie für die Gegenwart bedeutungsvoll wird. Das mehrfache Scheitern eines alle Masse überschreitenden Expansionsdrangs in der persischen Geschichte enthält Lehren für die von imperialistischen Tendenzen griechischer Poleis bedrohte Gegenwart.[20] Ob Herodot selber pessimistisch war oder nicht, die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen, gibt Hoffnung: jemand könnte ja hinhören und die Konsequenzen ziehen. Leidvolle Erfahrungen bis in die jüngste Vergangenheit haben uns gelehrt, dass Machtpolitiker kaum an Lehren der Geschichte interessiert sind, aber Herodot konnte das noch nicht so genau wissen.

Andrerseits gibt es zur geschichtstreibenden Kraft des Herrschaftsdranges eine mächtige Gegenkraft, die in Herodots Geschichtsdenken zentral ist: den Freiheitswillen der je angegriffenen Völker.[21] Der ist zwar prekär und durch gegenläufige Faktoren wie politische Uneinigkeit bedroht (was das Scheitern des Aufstands der Ionier gegen die Perser verursacht), aber er zeitigt doch erstaunliche Erfolge (wie im Aufstand der Perser gegen die Meder oder im Widerstand der Griechen gegen die Perser). Herodot weiß freilich, dass der in den Perserkriegen glorreich bewährte Wert der ‘Freiheit’ (eleutheria) durch propagandistischen und ideologischen Missbrauch bald relativiert wurde. Aber er behielt doch eine immens motivierende Kraft (wie sich in seiner eigenen Zeit zeigte). Jedes Mal, wenn diese Kraft durchbrach und den Machtbildungsprozess störte, bestand somit die Möglichkeit, dass das Rad der Geschichte sozusagen ‘entgleisen’ könnte. Es gibt historische Weichenstellungen: Athen musste nicht das Erbe der Perser antreten!

Gerade die Entdeckung von Grundmustern oder Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte machte es somit möglich, einen auf der Erfahrung unablässiger Kriege um Macht und Herrschaft basierenden Pessimismus auszugleichen. Probleme bestanden gewiss zu Hauf; sie waren schwerwiegend und forderten auch die Historiker zur Suche nach Lösungen heraus. Aber das griechische politische Denken war immer davon ausgegangen, dass Probleme lösbar waren, und die Erfolgsquote war ja gerade in der archaischen Zeit nicht gering. Man denke etwa auch an das ‘Amnestiedekret’, mit dem die Athener 403 v.Chr. die Stasis in ihrer Polis ein für alle Male beendeten. Herodot wie Thukydides waren ferner an einer intensiven Debatte darüber beteiligt, ob und wie ein auf Herrschaft und Eroberung konditionierter Agent (ob Individuum oder Polis) sich zu einer Politik des Friedens transformieren könne.[22] Weil die von Herodot entdeckten historischen Grundmuster auf allgemein menschlicher Erfahrung (aller Zeiten und Völker) beruhen und der Historiker nicht aus einer athenischen, sondern panhellenischen, wenn nicht gar ‘panhumanen’ Perspektive denkt und schreibt, scheint es mir fraglich, ob man mit dem Konzept des ‘Niedergangs’ oder einer ‘permanent gestörten Ordnung’ seinem Denken und dem seiner Zeit gerecht werden kann.

Um seine allgemeine Interpretationsrichtung zu verdeutlichen, schiebt Voegelin zwischen Herodot und Thukydides den pseudo-xenophontischen Traktat über die Verfassung der Athener ein:[23] die zwiespältige Haltung dieses Autors sei wichtig „für die Entstehung von Geschichtsbewusstsein im allgemeinen sowie für die besondere Form”, die es damals annahm (OG V, 223). Hier, scheint mir, zeigt sich wieder eine Problematik von Voegelins Ansatz. Gewiss ist das Athen, das der ‘Alte Oligarch’ beschreibt, nicht was er und seine Gesinnungsgenossen sich wünschen: es hat seine traditionelle soziale Struktur, politische Linie und Wertmaßstäbe verloren: „ein fremdes Ungeheuer hat sich an den Platz der Polis gesetzt, die sie liebten” (ebd.). Nach Voegelin spiegelt der Traktat ein in krassem Gegensatz zur Realität der Demokratie stehendes altes Ethos und einen Wechsel „zum neuen Utilitarismus der Macht” (OG V, 224-25).

Wieder erheben sich Einwände. Die Sprache aristokratischen Vorurteils, die soziale Differenzierung mit ethischen Werten kombiniert (also Edle und Niedrige als agathoi und kakoi, Gute und Schlechte bezeichnet) ist im Griechischen alt und findet sich anderswo (auch im Deutschen, etwa in gemein). Der Oligarch benützt auch zur politischen Argumentation ethische Begrifflichkeit, aber dahinter tritt unverhüllt dasselbe Machtdenken hervor, das der Autor den Demokraten vorwirft: der neue ‘Utilitarismus der Macht’ gilt für beide![24] Demokratie und Oligarchie erscheinen hier als unvereinbare, exklusive Verfassungsformen, in denen jeweils ein Teil der Bürgerschaft zu seinem eigenen Vorteil über den andern herrscht. Der Autor nimmt vorweg, was die ‘Vierhundert’ und dann die ‘Dreißig’ wenig später zu verwirklichen suchen. Er sieht aber im Athen seiner Zeit weniger einen Niedergang als einen ‘Irregang’ und weiß genau, wie sich die gleiche Polis mit den gleichen Bürgern und dem gleichen Machtpotential in eine ‘gute Ordnung’ verwandeln lässt. Nur würde leider diese eunomia nur den Oligarchen Vorteile bringen und den Freiheitsverlust der Massen bewirken. Deshalb vermag der Autor auch, was Voegelin nicht übersieht, „die Vitalität, die intelligente Politik und die triumphierende Lebensfähigkeit des demokratischen Athen” anzuerkennen (OG V, 223): die Demokraten sind brillant, nur tun sie es im Interesse einer falschen Sache!

Machtdenken statt traditioneller Ideale, Politik statt Ethik: dies gilt auch für Thukydides. Ich lasse es dahingestellt, was genau ihn zum Historiker machte (V.229-30). Was Voegelin zur ‘Erschütterung’ (kinēsis) sagt, unter der Thukydides sein Thema zusammenfasst, wie er sich mittels dieser Vorstellung gegen seine Vorgänger abgrenzt, und wie sein Denken hier von Theorien der zeitgenössischen Medizin befruchtet wird, ist hochinteressant (OG V, 230ff.). Mir geht es wieder um anderes. Thukydides’ Großtat, eine historische Wissenschaft zu begründen, warf „unvermeidlich schwerwiegende Probleme für die Zukunft der politischen Wissenschaft auf... Kinesis war eine ‘Krankheit’ der politischen Ordnung; die Praktiker, die ihr eidos… bestimmten, waren die Totengräber von Hellas, als die Platon sie im Gorgias charakterisierte; und die politische Wissenschaft von Thukydides war eine Modellstudie zum Selbstmord eines Volkes, aber kaum ein Entwurf zu einer erfolgreichen politischen Ordnung” (OG V, 237).

Richtig: Thukydides und Platon ergänzen sich. Der Historiker „untersuchte eine politische Gesellschaft in der Krise und schuf die empirische Wissenschaft von der tödlichen Krankheit der Ordnung; Platon schuf die andere Hälfte der Politik, die empirische Wissenschaft der Ordnung” (ebd.). Wieder zeigt sich hier eine Problematik von Voegelins Ansatz: er denkt, interpretiert und urteilt von Platon her. Platon und sein Sokrates entdeckten die Ethik, die ihres Erachtens auch die Politik prägen musste. Sie machten damit einen gewaltigen Sprung über alles hinaus, was vorher gewesen war. Thukydides war kein Analytiker der politischen Ethik, sondern der Politik in ihrer harschen Realität, d.h. der Macht und des Machtdenkens. Nur wenn man in ihm den Ethiker sucht, kann man ihn auch als empirischen Analytiker „der tödlichen Krankheit der Ordnung” sehen.

In Thukydides’ Sicht, meine ich, war Athen vielleicht krank, aber keineswegs todkrank. Es hatte um die totale Macht gepokert und unnötig verloren. Dafür gab es eine Anzahl von Gründen, die Thukydides analysierte und für die er, wie für die Stasis und die Pest, ‘Pathologien’ verfasste, in denen er den Phänomenen von Imperialismus, Freiheit, Demokratie (neben andern) bis auf den tiefsten Grund nachging.[25] Daraus ließen sich Lehren ziehen, und das war Thukydides’ wichtigstes Anliegen: er wollte Geschichte nützlich machen, einen „Besitz für immer” (ktēma es aiei, 1,22,4). Es ging ihm ums „genaue Wissen”, so dass man bei der Wiederkehr solcher und ähnlicher Vorgänge (eben ‘historischer Grundmuster’), die man unbedingt erwarten musste, vorbereitet war und die Herausforderungen meistern konnte. Denn was nach Thukydides der kaleidoskopischen Vielfalt von historischen Geschehnissen eine gewisse Einheit und ein didaktisches Potenzial verleiht, ist die Menschennatur (to anthrōpinon): Menschen sind Menschen, und sie werden sich in ähnlichen Situationen ähnlich verhalten. Der Historiker ist hier Anthropologe: er sammelt, sichtet, ordnet und analysiert typisches menschliches Verhalten und kann es deshalb bis zu einem gewissen Grad voraussehen.

Darin sehe ich, wie bei Herodot, auch Grund zu Optimismus. Wie beim Alten Oligarchen würde ich meinen, dass Thukydides weniger an ‘Niedergang’ und moralischen Zusammenbruch, als an einen ‘Irregang’, eine fehlgeleitete Entwicklung dachte. Die gemäßigte Oligarchie der 5000 sah er als eine vielversprechende Ordnung: sie half den Athenern, sich wieder aufzurichten (8,97.2). Wenn also eine Verfassungs-änderung es möglich machte, eine Krise zu überwinden, so war die ‘Wiederzusammenführung von Macht und Geist auch mit konventionellen Mitteln’ nicht, wie Voegelin denkt, unmöglich, sondern durchaus denkbar; auch hier denke ich an das ‘Amnestiedekret’. Gewiss lag auch ethisch manches im Argen, aber es war doch primär eine politische Fehlentwicklung, die der Historiker analysierte. Mit der Vorstellung einer todkranken Gesellschaft verträgt es sich ja auch schlecht, dass Thukydides gerade ihr einen ungeheuren Leistungsoptimismus, ein grenzenloses „Könnensbewusst-sein”, wie Christian Meier es nennt,[26] zuschreibt, das sie zu immer neuen Höhen der Errungenschaft führte—auch wenn es sie zuletzt über die Klippe in den Abgrund stürzen ließ.—Manches, das in diese Richtung führt, hat Voegelin auch gesehen, und es ließe sich noch vieles zu seiner Sicht von Athen und Thukydides sagen.

VII.

Zum Schluss betone ich nochmals, dass es sehr vieles gibt, was ich an Voegelin bewundere. Sein Werk ist enorm reich an wertvollen Einsichten und treffenden Beobachtungen—ganz abgesehen von geschliffenen Formulierungen. In der Einzelinterpretation des Denkens zahlreicher Autoren ist es eine Schatztruhe. Die Weite der vergleichenden Perspektive ist selten und außerordentlich. Von den Problemen, die ich aufgegriffen habe, haben die, welche die Rückerinnerung, Frühzeit und Homer betreffen, zum Teil mit einem überholten Forschungsstand zu tun. Indem sie aber die Plausibilität des großen Entwicklungsbogens, den Voegelin von der kretischen Frühzeit bis Platon zieht, gerade in seiner Grundlegung zumindest in Zweifel ziehen, schwächen sie diesen Bogen insgesamt.  

Außerdem, scheint mir, haben vier Faktoren Voegelins Interpretation der Quellen stark beeinflusst. Dies sind zum einen die kulturtheoretischen Prämissen, die dem ganzen Werk zugrunde liegen und die ich eingangs kurz erwähnt habe; sie haben Voegelin möglicherweise veranlasst, die Rolle des ‘göttlichen Elements’ in der Entwicklung griechischen Denkens zu hoch einzuschätzen. Zweitens ist gerade dieses Problem (neben andern) auch mit dem Bemühen zu erklären, im Vergleich die Parallelen in welthistorischen Vorgängen herauszuarbeiten (darin trifft sich Voegelin mit den AchsenzeitTheoretikern Karl Jaspers und Shmuel Eisenstadt): in diesem Fall ist es die Parallele in Voraussetzungen und Charakter der „Seinssprünge“ in Israel und Griechenland, in denen die Unterschiede vielleicht gewichtiger waren als Voegelin denkt. Drittens hat die Erkenntnis des gewaltigen „Seinssprungs“, der Platons Philosophie hervorbrachte, Voegelin dazu verleitet, die vorangehende Entwicklung zu sehr von Platon her zu interpretieren. Und viertens—und damit zusammenhängend— stimme ich zwar Voegelin zu, wenn er die Erfahrung tiefer Krisen als entscheidendes movens in der Entwicklung politischen Denkens sieht, aber diese Krisen als Teil eines (gar ‘tödlichen’ oder ‘unaufhaltsamen’) Niedergangs zu sehen, verbaut mehr Einsichten als es eröffnet. Hier wird eine Sehweise Platons verabsolutiert und in frühere Quellen hineingetragen, die sich so in ihnen nicht findet—nicht einmal bei Thukydides.

Insgesamt habe ich deshalb den Eindruck, dass in Voegelins Interpretation der Quellen nicht selten ein problematischer Widerspruch besteht. Einerseits bemüht er sich offenkundig und aufgrund eines radikalen empirischen Prinzips, seine Folgerungen aus den Quellen abzuleiten. Ich zitiere Opitz: „Nichts bzw. nur das sollte in die Geschichte hineingelesen werden, was in den Realitäts- und Transzendenzerfahrungen von den zeitgenössischen Denkern und Dichtern, Philosophen und Propheten, Eroberern und Historikern dazu gesagt worden war”.[27] Andererseits neigt Voegelin deutlich dazu, diese Quellen von einer durch starke theoretische Prämissen geprägten Position aus zu interpretieren, so dass er oft mehr hört als drinsteht und den Quellen doch Gewalt antut.

Und schließlich ist das, was zweifellos aus einer andern Perspektive die Stärke und Größe von Voegelins Geschichtsdeutung ausmacht, aus meiner viel beschränkteren Sicht auch ein Nachteil. Ich vermute eben doch, dass Voegelins Analysen insgesamt darunter leiden, dass er nicht zwischen politischem, ethischem, religiösem und historischem Denken unterscheidet—und von seinem kulturphilosophischen Ansatz her auch gar nicht unterscheiden kann. Aber ich gebe gerne zu, dass das Problem hier auch in meiner Tendenz liegen mag zu scheiden, was vielleicht gar nicht so geschieden werden darf.

Nicht zuletzt deswegen getraue ich mich auch kaum, die unvermeidliche große Schlussfrage zu stellen, die man doch nicht umgehen kann: Ist das große Gedankengebäude, um dessen Errichtung Voegelin zeitlebens gerungen hat, das so viele kleine und große Änderungen erfuhr und zuletzt doch unvollendet blieb, heute noch den Besuch und die Auseinandersetzung wert? Kann man darauf weiterbauen? Lohnt es sich, wie Assmann es für Ägypten stark bejaht (OG I, 224), weiterhin mit Voegelin zu denken? Eine Antwort muss einer gemeinsamen Schlussdiskussion vorbehalten bleiben. Was die Griechen betrifft, so denke ich persönlich, um im Bild zu bleiben, dass das Wühlen in vielen Truhen und Schränken und der Besuch mancher Kammern dieses Gebäudes weiterhin viel Gewinn versprechen, dass aber trotz vieler starker und schöner Bausteine gerade dieser ‚griechische Flügel’ des Gebäudes auf wackligen Fundamenten steht. Was aber bleibt, ist, was wiederum Assmann zu Recht hervorhebt: Voegelin ist ein „Bahnbrecher und Anreger, der zu Weiterforschen und Weiterdenken, Vertiefen, Widerlegen, Zustimmung und Widerspruch herausfordert.”[28]

VOEGELINIANA – OCCASIONAL PAPERS Hrsg. von Peter J. Opitz

in Verbindung mit dem Voegelin-Zentrum für Politik, Kultur und Religion am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München; gefördert durch die Eric Voegelin-Gesellschaft e. V. und den Luise Betty Voegelin Trust Satz und Redaktion: Anna E. Frazier Occasional Papers, No. 97, Mai 2015. Dieser Beitrag ist entnommen und Veröffentlicht mit der Genehmigung für das Voegelin Principles von Eric Voegelin Gesellschaft und Editor Peter J. Opitz. ​

© 2015 Peter J. Opitz

 

 

[1] Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte (im Folgenden OG). Hg. v. Peter J. Opitz und Dietmar Herz, Bd. I: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, hg. v. Jan Assmann; aus dem Englischen v. Reinhard W. Sonnenschmidt, München: Fink Verlag, 2002, 13.

[2] Jan Assmann, Zur Einführung, in OG I, 17f. (Hervorh. K.A.R.) Zum „Geviert“ siehe im Einzelnen Eric Voegelin, Einleitung: Die Symbolisierung der Ordnung, in: OG I, 39ff.

[3] Peter J. Opitz, Eric Voegelin: Wegmarken einer Denkbewegung, 3-6 (unveröffentlichtes Konferenzpapier), sowie ders. Vom „System der Staatslehre“ zur „Philosophie der Politik und der Geschichte“: Zur Entstehungsgeschichte von Eric Voegelins Order and History, in OG I, 231ff.

[4] Opitz, Wegmarken, 95; Jürgen Gebhardt, Die Ursprünge der symbolischen Form menschlicher Selbstverständigung in der griechischen Antike, in: OG IV: Die Welt der Polis. Gesellschaft, Mythos und Geschichte. Hg. v. Jürgen Gebhardt; aus dem Englischen v. Lars Hochreuther und Heide Lipecky, München: Fink Verlag, 2002, 220-236, sowie Jürgen Gebhardt, Die Ordnungserfahrung der ‚Philosophen’ und die bürgerliche Welt der Polis. Der Bruch mit dem Mythos und die Genesis des selbstreflexiven Denkens, in OG V: Die Welt der Polis – Vom Mythos zur Philosophie. Hg. v. Jürgen Gebhardt; aus dem Englischen v. Dora Fischer-Barnicol und Gabriele von Sivers-Sattler, München: Fink, 2003, 291-306.

[5] Ebd.

[6] S. z.B. Sigrid Deger-Jalkotzy und Irene S. Lemos (Hgg.), Ancient Greece: From the Mycenaean Palaces to the Age of Homer. Edinburgh: University Press, 2006; Oliver Dickinson, The Aegean from Bronze Age to Iron Age. Continuity and Change between the Twelfth and Eighth Centuries BC. London: Routledge, 2006.

[7] S. etwa Kurt A. Raaflaub, Homer, the Trojan War, and History, in: Classical World 91.5, 1998, 386-403; id., Epic and History, in: John M. Foley (Hg.), A Companion to Ancient Epic. Malden Mass. und Oxford: Blackwell, 2005, 55-70; Christoph Ulf (Hg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz. München: Beck, 2003; David Konstan und Kurt Raaflaub (Hgg.), Epic and History. Malden Mass. und Oxford, 2010.

[8] Wieder aufgegriffen in Fritz Schachermeyr, Die griechische Rückerinnerung im Lichte neuer Forschungen. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1983.

[9] M. I. Finley, Economy and Society in Ancient Greece. Hg. v. Brent D. Shaw und Richard P. Saller. New York: Viking, 1982, Part 3 (Mycenae and Homer: Wiederabdruck von Aufsätzen aus den 1950er Jahren).

[10] Joachim Latacz, Troia und Homer: Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. 6. Aufl. Leipzig: Köhler und Amelang, 2010.

[11] S. Raaflaub, Political Thought, Civic Responsibility, and the Greek Polis. In: Johann P. Arnason und Peter Murphy (Hgg.), Agon, Logos, Polis: The Greek Achievement and Its Aftermath. Stuttgart: Steiner, 2001, 72-117, hier: 80-83.

[12] G. S. Kirk, The Iliad: A Commentary, I: books 1-4 (Cambridge: University Press, 1985, 336, ist kaum befriedigend.

[13] W. G. Runciman, Doomed to Extinction: the Polis as an Evolutionary Dead-end, in: Oswyn Murray und Simon Price (Hgg.), The Greek City from Homer to Alexander. Oxford: Clarendon, 1990, 347-67; Kostas Vlassopoulos, Unthinking the Greek Polis: Ancient Greek History beyond Eurocentrism. Cambridge: University Press, 2007.

[14] Christian Meier, Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge — Anfang Europas? München: Siedler, 2009.

[15] Dazu Raaflaub, Archaic and Classical Greek Reflections on Politics and Government: From Description to Conceptualization, Analysis, and Theory. In: Hans Beck (Hg.), A Companion to Ancient Greek Government. Malden Mass. und Oxford: Wiley-Blackwell, 2013, 73-92.

[16] Odyssee 1,1-32; Solon, fragm. 3 Gentili-Prato (4 West), 1-10.

[17] Solon, ibid. 14-17. Dazu Raaflaub, Political Thought (wie o. Anm. 11) 89- 93; s. auch Meier, Kultur (wie o. Anm. 14) 260-73, und bereits früher dens., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, 1-90.

[18] Dazu ausführlicher Raaflaub, Polis, ‘the Political’, and Political Thought: New Departures in Ancient Greece, c. 800-500 BCE. In: Johann P. Arnason, S. N. Eisenstadt, und Björn Wittrock (Hgg.), Axial Civilizations and World History. Leiden: Brill, 2005, 253-83.

[19] Vgl. etwa Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes: Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975, Kap. 1.

[20] Dazu Raaflaub, Herodotus, Political Thought, and the Meaning of History. In: Deborah Boedeker (Hgg.), Herodotus and the Invention of History. Arethusa 20, 1987, 221-48; id., Herodot und Thukyidides: Persischer Imperialismus im Lichte der athenischen Sizilienpolitik. In: Norbert Ehrhardt und Linda-Marie Günther (Hgg.), Widerstand — Anpassung — Integration. Die griechische Staaatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen Deininger. Stuttgart: Steiner, 2002: 11-40; id., Ulterior Motives in Ancient Historiography: What exactly, and Why? In: Lin Foxhall, Hans-Joachim Gehrke, und Nino Luraghi (Hgg.), Intentional History: Spinning Time in Ancient Greece. Stuttgart: Steiner, 2010, 189-210.

[21] Dazu Kurt von Fritz, Die griechische eleutheria bei Herodot. In: Wiener Studien 78, 1965, 5-31.

[22] Dazu Raaflaub, Friedenskonzepte und Friedenstheorien im griechischen Altertum. In: Historische Zeitschrift 290, 2010, 593-619, hier 616-19; s. demnächst auch id., Die grosse Herausforderung: Herodot, Thuykydides und die Erfindung einer neuen Form von Geschichtsschreibung. In: Historische Zeitschrift (im Druck).

[23] Gregor Weber, Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener, griechisch und deutsch, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010.

[24] Peter Spahn, Das Aufkommen eines politischen Utilitarismus bei den Griechen. Saeculum 37, 1986, 8-21.

[25] Dazu etwa Raaflaub, Thucydides on Democracy and Oligarchy. In: Antonios Rengakos und Antonis Tsakmakis (Hgg.), Brill’s Companion to Thucydides. Leiden: Brill, 2006, 189-222.

[26] Christian Meier, Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das ‘Könnens-Bewusstsein’ des 5. Jahrhunderts v. Chr. In: Meier, Entstehung des Politischen (wie o. Anm. 17) 435-99.

[27] Opitz, Wegmarken, 18.

[28] Jan Assmann, Nachwort zu OG I, 224

Rubrika: 
Share
Autoři: 

Kurt A. Raaflaub

KURT A. RAAFLAUB promovierte in Basel bei Christian Meier mit einer Arbeit zu den politischen Strategien im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius; er habilitierte sich an der Freien Universität Berlin bei Jürgen Deininger mit einer Arbeit über die Entdeckung der Freiheit bei den Griechen. Seit 1978 war er an der Brown University in Providence, Rhode Island, USA, tätig, zuletzt als David Herlihy University Professor und Professor of Classics and History und als Leiter eines interdisziplinären Programms zur vergleichenden Geschichte des Altertums. 1992-2000 war er (mit Deborah Boedeker) Direktor des Center for Hellenic Studies in Washington DC, 2005-8 Royce Family Professor for Teaching Excellence. Seit 2009 ist er emeritiert.

RAAFLAUBS Forschungsinteressen galten und gelten der sozialen, politischen und intellektuellen Geschichte des archaischen und klassischen Griechenlands und der römischen Republik mit Schwerpunkten in der ‚homerischen Gesellschaft’, der Sozialgeschichte von Krieg und Frieden, der athenischen Demokratie, den Anfängen und Charakteristika antiker Geschichtsschreibung, der Frühgeschichte Roms, und den Werken Caesars. Neuerdings befasst er sich mit der vergleichenden Geschichte des Altertums und der Entstehung des griechischen politischen Denkens im interkulturellen Zusammenhang des östlichen Mittelmeerraumes.