Eric Voegelin gehört zu jenem Kreis europäischer Denker, welche die vielfachen Anstöße zur Erneuerung einer philosophisch-historischen Wissenschaft vom Menschen jenseits der verschiedenen Marxismen und Positivismen in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts aufnahmen. In diesem Umkreis sind zu nennen: Arnold Toynbee, Raymond Aron, Michael Oakeshott, Bertrand de Jouvenel, und vor allem Leo Strauss und Hannah Arendt. Jede dieser Persönlichkeiten, mit denen Voegelin ungeachtet aller wissenschaftlichen Differenzen im freundschaftlichen geistigen Austausch stand, entzieht sich einer vorschnellen politischideologischen Zuordnung. Ihnen allen aber ist gemeinsam, daß die conditio humana Ausgang und Ziel ihrer wissenschaftlichen Reflexion über die menschlichen Angelegenheiten ist.
Voegelins Oeuvre, das eine eigene Synthese von deutscher Wissenschaftskultur und angelsächsischer Erfahrungswelt darstellt, wurde immer wieder vereinfachend als konservativ, normativ oder essentialistisch etikettiert. Für solche Zurechnungen finden sich narürlich immer Belege in der Produktion eines Mannes, der über 60 Jahre hindurch kontinuierlich lehrte und forschte und zudem ein gleichsam transatlantisches Gelehrtenleben führte: er war als erster österreichischer Rockefellerstipendiat (1924-27), Emigrant (1938-58) und schließlich wiederum als Emeritus (1969 bis zu seinem Tod 1985) in den USA, als Student in Wien, Paris und Heidelberg, als Dozent in der zweiten österreichischen Republik und später als einer der Gründungsväter der neuen deutschen Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik (1958-1969) tätig.
Im Kontrast zu Kritikern, die Voegelins Werk allen möglichen Ideologien – vom „Kommunismus" über den „Alt-" und „Neoliberalismus" bis zum „Faschismus" - zuordnen wollen, bezog er selbst sich auf Max Webers Verständnis von intellektueller Rechtschaffenheit als. Tugend des Gelehrten, welche allein eine unvoreingenommene Exploration der Strukturen der Wirklichkeit im Sinne einer kritischen rationalen Wissenschaft zulasse – und stellte fest, daß eine solche Haltung jeden Theoretiker naturgemäß zwischen die ideologischen Fronten geraten lasse; die Zuschreibung drücke narürlich die jeweilige bete noir des Kritikers aus und sage mehr über den intellektuellen Zustand der akademischen Welt, als über den Gegenstand der Kritik [15a: VOEGELIN, Autobiographical Reflections, 46]. Max Weber ist daher derjenige zeitgenössische Denker, mit dem Voegelin sich stets erneut auseinandersetzte und der, trotz prinzipieller wissenschaftlicher Vorbehalte, als Persönlichkeit Voegelins Auffassung vom Beruf zur Wissenschaft prägte. Weber war für ihn ein „Denker zwischen Abschluß und Neuanfang" einer Erforschung der geschichtlich-sozialen Realität [9: VOEGELIN, Neue Wissenschaft, 13] und Voegelin verstand sich selbst als Partner in einem kooperativen Unternehmen der theoretischen Erneuerung, dem Weber neue Wege wies, ohne daß es ihm vergönnt war, diese zu beschreiten.
Für Voegelin ist jedoch nicht nur die kritische Distanz zum jeweils zeitgenössischen Dogmenstreit und Meinungsklima charakteristisch, sondern ebenso die Fähigkeit, eigene Positionen in fortschreitender Reflexion immer neu kritisch aufzunehmen und gegebenenfalls zu revidieren. Mitunter führte dies dazu, daß Entwürfe, obschon bereits weitgehend durchgearbeitet, abgebrochen wurden, wenn sie neuen Einsichten Platz machen mußten. Deshalb läßt sich Voegelins Denken nicht en bloc zu einer Doktrin komprimieren. Den roten Faden seines Werkes bilden die Probleme, die er aufwirft und immer weiter präzisiert. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen zu nehmen: als Zugang zu diesen Fragestellungen und als knappe Wegweisung zur Sukzession von Voegelins Antworten. Der folgende Abschnitt umreißt die Prinzipienprobleme, die übrigen geben eine tour d'horizon anhand einiger in historischer Folge ausgewählter Werke Voegelins, die exemplarisch seine am historisch-empirischen Material erarbeiteten Antworten vorführen.
DIE PRINZIPIENPROBLEME: NATUR DES MENSCHEN, VERNUNFT UND ORDNUNGSSTRUKTUREN
Voegelins Werk kann als der Versuch einer „theoretischen Grundlegung der Wissenschaft von menschlicher und gesellschaftlicher Ordnung" beschrieben werden [9: VOEGELIN, Neue Wissenschaft, 13] – und zwar als Antwort auf eine doppelte Krise: auf die soziokulturelle Strukturkrise des 20. Jahrhunderts, die der Theoretiker ganz im Sinne der antiken Bedeutung von Krisis als Moment der Wahrheit begreift, in dem sich die Frage nach Ordnung und Unordnung gesellschaftlicher Existenz unausweichlich stellt; und als Antwort auf die Krise der Wissenschaft, die sich – insbesondere im Positivismus und im Bekenntnis zur „Wertfreiheit" – als unwillens oder unfähig erwies, ein fundiertes Urteil zu den ethischen und politischen Grundfragen der Gegenwart abzugeben. Voegelins Leitmotiv lautete also: Kann die Wissenschaft auf die ideologischen Konflikte und die intellektuelle Orientierungslosigkeit tatsächlich keine Antwort geben?
Für Voegelin ist eine Antwort auf die Krise nur dann intellektuell angemessen, wenn sie sich durch eine erfahrungsgeleitete Erkenntnis des Menschen von sich selbst und seiner Stellung in der Wirklichkeit begründet, die weder in der Erkenntnis der positiven Wissenschaft der phänomenalen Welt aufgeht, noch aus einem geschlossenen Geschichtsprozeß Hegelscher, Marxscher oder Comtescher Observanz deduziert wird. Aber auch aus dem Rekurs auf die Dogmatiken überkommener Traditionen und Konservativismen lassen sich keineswegs die philosophischen Fundamente einer kritischen und rationalen Wissenschaft von der Ordnung des Menschen in Gesellschaft und Geschichte gewinnen. Zwar besteht Voegelin demgegenüber stets darauf, daß die rationale Grundlegung der politischen Wissenschaft des Platon und Aristoteles unabhängig von Zeit und Ort Gültigkeit behalten hätte – doch dies bezieht er auf die erkenntnisleitenden Prinzipien der Untersuchung, nicht auf deren materiale Gehalte [9: 19]. Der epochale und paradigmatische Charakter der hellenischen Philosophie liegt für Voegelin in der Herausarbeitung dessen, was den Menschen wesentlich ausmacht; das zentrale Element, durch das sich die Humanität konstituiert, ist die Vernunft. Die Natur des Menschen wird hierbei zu jenem Paradigma, das uns die Struktur der geschichtlichen und politisch-sozialen Welt auf die Dimension des Geistes und der Freiheit des Menschen hin durchsichtig werden läßt. Dies verhindert, den Menschen lediglich durch seine biologischen Merkmale als Spezies zu bestimmen. ,, Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische Humanität als bestimmt durch die Frage nach seinem Woher, und seinem Wohin, nach dem Sinn und dem Grund seiner Existenz" [29: VOEGELIN, Reason, 241].
Die Beantwortung dieser Fragen ist nun in der Tat keine Domäne der Wissenschaft, sie vollzieht sich vielmehr allenthalben im Selbstverständnis der Gesellschaften, in denen wir eine große Zahl vielfältiger Antworten finden – in Form von Mythos, Religion und Ideologie, in philosophischer und politischer Reflexion, in Kunst und Literatur. Was „menschliche Natur", ihr Sinn und Grund ist, beantworten sich Menschen immer schon in solchen Symboliken der Selbstauslegung. Der gemeinsame Grund der Mannigfaltigkeit solcher Antworten erschließt sich in der philosophischen Reflexion auf den Erfahrungskomplex des Menschlichen und seiner Ordnung. Ihr Ziel ist ein prinzipielles Wissen vom Platz des Menschen in der umfassenden Realität von Gott, Mensch und Welt, Gesellschaft und Geschichte, d. h. die Bestimmung seines ontischen Ortes.
Zum Menschen gehört dessen Charakter als psychisches, animalisches, vegetatives und physisches Wesen wie auch die noetische Dimension des Geistes. „Geist“ ist dabei für Voegelin nicht ein abstraktes „Gespenst in der Maschine" (Gilbert Ryle) sondern die in jedermanns Selbsterfahrung gegebene Dimension der Bewußtheit, in der Erfahrung als solche präsent wird. Dabei sieht Voegelin im Geist aber auch das Sensorium und den Ursprung aller Ordnungserfahrung, insofern er sich der formenden Kraft einer ihm transzendenten, nichtgegenständlichen präpersonalen Wirklichkeit zu öffnen vermag. Für diese nichtgegenständliche Erlebniswirklichkeit wählt Voegelin Worte wie „Realissimum", ,,göttliches Sein" oder „Seinsgrund". Die vielfältigen Modi der personalen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Verwirklichung machen insgesamt die Struktur des menschlichen Seins aus. Von zentraler Bedeutung ist hierbei schließlich die Spannung von menschlicher Autonomie und seinsgebundener Bedingtheit.
So verstanden liefert das klassische hellenische Denken erkenntnisleitende Prinzipien einer Untersuchung der politischen Welt. Voegelin faßt sie unter dem zentralen Begriff des „anthropologischen Prinzips" zusammen und bestimmt die Fragen nach der menschlichen Natur und ihrer richtigen Ordnung als den Komplex der Grundfragen einer rationalen und empirischen politischen Wissenschaft wie sie Aristoteles als die „philosophia peri ta anthropina" (Philosophie über das Menschliche) zusammengefaßt habe (9: VOEGELIN, Neue Wissenschaft, 93-95; 49: SCHMÖLZ, Naturrecht 122f.). Erstens und als allgemeines Prinzip zur Interpretation der Gesellschaft besagt es, „daß jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus der Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt". Die politische Ordnung einer Gesellschaft ist Ausdruck der dominanten Selbstinterpretation ihrer Mitglieder, die sich in jener Sphäre realisiert, die wir heute mit dem Wort politische Kultur umschreiben. Zweitens fungiert das Prinzip als Instrument der Sozialkritik. Denn die philosophische, d. h. vernunftbestimmte Existenz liefert auch einen kritischen Maßstab dafür ob und inwieweit die Aktualisierung des menschlichen Potentials in einer gegebenen personalen und soziopolitischen Ordnung menschlicher Existenz gelingt, sowie Kriterien dafür, begründete Urteile über Unordnungsphänomene auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu fällen.
Zwei weitere Aspekte einer solchermaßen konzipierten Vernunft und Erfahrungswissenschaft des Menschlichen seien noch herausgestellt: Erstens, ausgehend von der zentralen Ordnungsfunktion der Ve^unft unterscheidet Voegelin „zwischen dem rationalen Handeln in den peripheren Zonen der menschlichen Psyche und dem Handeln, das den zentralen Bereich der Psyche selbst betrifft". In dieser Unterscheidung von „pragmatischer Vernunft und noetischer Vernunft" ist sich Voegelin mit Denkern wie Mannheim und Horkheimer einig, die ihr kritisches Instrumentarium zur Gesellschaftsanalyse aus der ähnlichen Unterscheidung von formaler bzw. instrumenteller und materialer bzw. substantieller Rationalität beziehen und der Reflexion der Ziele menschlicher Lebensführung im klassischen Sinn wissenschaftliche Dignität zusprechen. Unter pragmatischer Vernunft versteht Voegelin „jedes rationale Handeln in den Wissenschaften der äußeren Welt, die Entwicklung der Technologie und die Koordinierung der Mittel und Ziele im auf die äußere Welt gerichteten Handeln". Unter noetischer Vernunft soll „jedes rationale Handeln in den Wissenschaften vom Menschen, von der Gesellschaft und von der Geschichte, wie auch in der Schaffung der psychischen Ordnung und der Gesellschaftsordnung verstanden werden". Diese beiden Zonen rationalen Handelns sind relativ unabhängig voneinander „insofern die Entwicklung einer pragmatischen Rationalität mit einer hohen Stufe von Irrationalität in der Sphäre der noetischen Vernunft möglich ist" [27: VOEGELIN, Die Industrielle Gesellschaft, 60 f.].
Hier also setzt Voegelins Antwort auf die oben angesprochene Krise ein. Geistes und sozialgeschichtliche Forschung gibt in der Sicht Voegelins in der modernen Gesellschaft die qualitativen Maßstäbe für das Leben der Vernunft unter dem Horizont der geschichtlichen Erfahrung. Hieraus gewinnt sie ihre eigenständige, gesellschaftliche Bedeutung und kann sich befreien von der Fremdbestimmung durch gängige Interpretationsmuster, wie etwa den Utilitarismus und die instrumentelle Vernunft. Zweitens weist Voegelin daraufhin, daß sich die historisch-sozialen Wissenschaften vom Menschen auf dem Weg zu einer umfassenden Erkenntnis des Menschlichen und seiner Strukturen befinden, und sich dabei von dogmatischen und ideologischen Stereotypen und Verzerrungen mehr und mehr befreien. Hierzu zählt nicht zuletzt der traditionelle, eurozentrische Blickwinkel, an dessen Stelle nun eine interkulturelle Perspektive tritt. ,,Was heute in den verschiedenen Wissenschaften geleistet wird, von der Klassischen Philologie, der vergleichenden Religionswissenschaft, der Archäologie, der Orientforschung, der Mediävistik usw.", sagt Voegelin 1965 zur Ortsbestimmung seiner eigenen Arbeit, ,,ist eine Art konvergente Entwicklung einer Wissenschaft der allgemeinen Strukturen, welche nicht eine Besonderheit der westlichen Zivilisation sind, sondern ihre Wurzel in der menschlichen Natur und deren Spielarten haben, und deswegen überall, in allen Gesellschaften vorgefunden werden" [13: VOEGELIN, Conversations, 19).
Verknüpfen wir diese Aussage mit der in der klassisch-hellenischen Politik gelieferten Prinzipienlehre der wissenschaftlichen Untersuchung, so stellt sich der Zusammenhang wie folgt dar: Eine Wissenschaft der allgemeinen Strukturen entwickelt jene Generalnenner, welche für alle Varianten gesellschaftlicher Existenz gültig sind, insofern sie in der menschlichen Natur wurzeln. In der Konstanz der menschlichen Natur und der Gleichartigkeit ihrer Ordnungsprobleme ist die Erkennbarkeit der Strukturen der geschichtlich-sozialen Welt begründet. In der Mannigfaltigkeit der Ausformungen ist die menschliche Welt jedoch Ausdruck der Geist oder Vernunftnatur des Menschen jenseits aller biologischen Determiniertheit und dieses Wechselspiel von Konstanz und Variabilität in der menschlichen Natur führt zu den unterschiedlichen Varianten ihrer geschichtlichen Artikulation unter dem Horizont einer offenen Zukunft. Hieraus erklärt sich, warum der Mensch im geschichtlichen Prozeß zum Wissen seiner selbst gelangen kann, ohne sich je ganz zu wissen, ohne das Mysterium seiner Existenz je ganz selbst entschlüsseln zu können.
VOEGELINS STUDIE „ÜBER DIE FORM DES AMERIKANISCHEN GEISTES" (1929)
In seiner Studie „Über die Form des amerikanischen Geistes" (1929), Frucht seines mehrjährigen USA-Aufenthalts, untersucht Voegelin Philosophie, Rechtslehre, Wirtschaftsdenken und Gesellschaftsideen auf gemeinsame Formeneigentümlichkeiten hin und beschreibt den amerikanischen Gesellschaftskörper als einen von seiner geschichtlichen Herkunft geprägten "Inbegriff geistiger Gestaltungen". Uns sollen hier nicht der materiale Inhalt dieser Studie sondern primär ihre für die weitere intellektuelle Entwicklung Voegelins grundlegende Methode geisteswissenschaftlicher, d. h. sinnverstehender Analyse sozialer Gebilde interessieren. Voegelin möchte "aus dem Stoff selbst heraus die Mittel seiner Deutung und seinen Sinn . . . entwickeln" (1: VOEGELIN, Form des amerikanischen Geistes, 1]. Die Kategorien der Interpretation sind nicht – wie im apriorischen Verfahren der Neokantianer – vorgegeben, sondern entwickeln sich im Verstehensprozeß selbst, der es mit „selbstsprechenden" Zeugnissen des sprachlichen Ausdrucks zu tun hat. ,,Naturwissenschaften sprechen nicht von sich selbst, sondern von Objekten, die ihrem Ausdrucksmedium wesentlich transzendent sind, während Philosophie ... zu einer Selbstbesinnung über ihren Gegenstand, d. h. über sich selbst kommt. Ihr Gegenstand ist wesentlich immanent und sein Medium - der Erkenntnisprozeß in seinen vielfältigen Erscheinungsformen – ist eben das Medium, in dem auch seine Untersuchung sich vollzieht" [1: 5].
Der in der Form gegebene Zusammenhang läßt sich durch den kategorialen Gegensatz von „personal und peripher" näher bestimmen; das erstere betrifft typische Formmerkmale von „sinnzentraler Lage", ,,während der periphere Typus Einzelzüge beschreibt, die erst mit den personalen zusammen verständlich werden" [1: 7]. Der Vorrang der personalen vor den sie ergänzenden anonymen Abläufen verweist auf die Empirie: ,,Wenn auch der Gedanke einer überpersönlichen Bewegung des Geistes gefaßt werden kann, so ist doch empirisch sein Leben an das der Menschen gebunden, das in der geistigen Form sich ausdrückt und bewegt". Die Gebilde des Geistes weisen eine Gemeinsamkeit in ihren Strukturen auf, die vom Selbstbewußtsein über die religiöse und soziale Beziehung bis zum Eigentumsverständnis und der wirtschaftlichen Wertung reicht. Darin drückt sich „ein schaffender Wille" aus, und zwar aus Motiven, die unmittelbar den „ersten Problemen des Lebens" entspringen: ,,Leiden der Einsamkeit, Verlangen nach der Gesellschaft der anderen, nach Intimität und Liebe, die seelischen Abenteuer der Jugend, die Entzauberung des Alters, die Erwartung des Todes" [1: 14, 18]. Ein solches Reich der geistigen Formen ist nicht fest gefügt, "sondern aufgelöst in der Bewegung des Geistes selbst". Sie vollzieht sich im "Medium der Geschichte", deren für die Deutung relevante Momente sich wiederum aller vorgängigen Kategorisierung entziehen: ,,die Auswahl des Gegenstandes hat der Auswahl zu folgen, die die Geschichte selbst getroffen hat". Denn die Sinnlinien des historischen Kontinuums setzen sich fort und wachsen, ebenso wie sie abbrechen und absterben; aus der unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher Fortsetzungen wählt „das Leben selbst" [1: 14].
Die Offenheit und Beweglichkeit aller geistigen und historischen Form gilt auch für den symbolischen Charakter allen Seins. Analytisch können wir zwischen den Symbolordnungen und dem Symbolisierten trennen. Auf Seiten der Symbolordnungen stehen z.B. alle Zeichensysteme (etwa Sprache und Mathematik) und Symbolordnungen wie Kunst, Religion, Erotik, Recht und politisches Handeln; auf der anderen Seite findet sich die Masse des Symbolisierten oder existentialen Seins. Beide Seiten bilden jedoch eine Einheit und lassen sich nicht säuberlich in zwei an-sich-seiende Reiche trennen, da sie einanderd urchdringen. Die Symbole sind selbst Teil unserer Wirklichkeit, und diese selbst besitzen wir nicht als ansieh-seiende:" . .. was immer wir von [der Existenz] erobern ist wieder nur symbolisch . . . alles Sein ist symbolisch . . ." [1: 20]. Alles symbolische Sein widersetzt sich einer Schließung zum System, denn es ist offen im Transzendieren in die Existenz. Alles existentiale Sein entzieht sich dem Besitzen-Wollen als „an sich seiende Wirklichkeit", denn es ist selbst „von symbolischem Sein erfüllt". Wir nähern uns in der Betrachtung der geistigen Formenwelt stets nur dem symbolischen Sein, dessen inneres Gefüge allein erfahren und gedeutet werden kann (1: 19f.].
Über diesen Begriff des symbolischen Seins, dessen immer gleiche immanente Spannung in der unterschiedlichen Typik philosophischer Diskurse Ausdruck findet, dechiffriert Voegelin die für die geschichtliche Gestalt der amerikanischen Gesellschaft eigentümliche Form des amerikanischen Geistes. Diese Form umschreibt er durch die personale Kategorie des „Offenen Ichs" und stellt sie der europäischen Philosophie der Persönlichkeit vom Typ des „geschlossenen Ich" gegenüber. Die „Offenheit des Ich", erwachsen aus dem amerikanischen Lebenszusammenhang, umfaßt eine gemeinsame Form des Denkens, welche bis in die puritanische Mystik zurückreicht und im Denkstil von Peirce, James und Santayana ihren beispielhaften Ausdruck findet.
Die „Staatswirklichkeit" drückt sich in den Ideen der Person und der Gemeinschaft aus, ,,in dem prägnanten Sinn von Leitbildern und zwar Leitbildern besonderen Inhalts, in denen sich für die Glieder der politischen Gemeinschaft die Wirklichkeit der politischen Gemeinschaft aufbaut". Sie sind geschichtliche Erscheinungen, welche „wesensgesetzlich" ihren Ursprung in den genannten Grunderlebnissen haben [17: VOEGELIN, Weber, 4]. Der Begriff „wesensgesetzlich" verweist darauf, daß nunmehr bei der Analyse sozialer Gebilde die sinnzentrale Kategorie des Personalen ihren systematischen Ort in einer Wesenslehre des Menschen findet. Diese entspringt einem „Nachdenken über das Wesen des Menschen und seine innere Gliederung" – das ewige, weil grundsätzlich unabgeschlossene Problem philosophischer Spekulation, welche die Grunderfahrungen innerhalb des menschlichen Daseinsbezirks selbst ebenso wie jene der anorganischen, pflanzlichen und tierischen Natur zum Ausgangsmaterial der Konstruktion von menschlichen Selbstbildern macht. Die mannigfaltigen Selbstdeutungen des Menschen hängen von den Konstruktionsprinzipien ab, mit deren Hilfe die Einheitsgestalt des menschlichen Wesens erzeugt wird.
Aus der Anerkennung der Realität der wesentlichen menschlichen geistigen und subhumanen Phanomene resultiert die Einsicht, daß der Mensch in seinem ontischen Gefüge allen Reichen des Seins zugleich angehört. Trotz dieses vielschichtigen Aufbaus ist er aber eine Einheit, u. zw. durch die Hinordnung auf ein organisierendes Zentrum: den Geist. Dieses Betrachtungsprinzip des Menschen als geistige Einheit ist auf den ersten Blick nur eines unter anderen möglichen Konstruktionsprinzipien, denn der Mensch kann sowohl Gegenstand der Mechanik, der Chemie und der Biologie als auch der Geistforschung sein. Da aber die personale Kategorie die politische Welt als Ausdruck des geistigen Gesamtwesens des Menschen erschlossen hatte, ist diese Deutung empirisch als der angemessene Zugang ausgewiesen. Hierin läßt Voegelin sich von Seheier, Plessner und Jaspers leiten. Er macht jedoch darauf aufmerksam, daß es sich um die "Wiederherstellung der Probleme durch Heraufheben der klassischen Formulierungen in die Denksituation unserer Zeit handele" und nennt Aristoteles, Descartes, Kant und den jüngeren Fichte als entscheidende Quellen [17: 20-36].
In Voegelins Begründung der geisteswissenschaftlichen Methode fallen also der Person und der Offenheit des Geistes die zentrale Rolle zu. Ihr Kernstück sieht er in dem durch die Erfahrungspsychologie des amerikanischen Pragmatismus informierten Begriff der „Offenheit": Der Geist „ist gegen die Welt offen, nicht bloß in der Weise des Ausgreifens und Wirkens, sondern auch offen als Stelle des Einbruches von Geistwirklichkeit, die jenseits der Person liegt. Er hat Einfälle und Eingebungen. Er ist unmittelbar verbunden mit dem Weltgrund, und er ist eingebettet in die geistigen Gemeinschaften aller Stufen: der Menschheit, der Nation bis zum Familienkreis und engen Freundschaftsbünden" [17: 69]. Die in dieser Transzendenzbewegung gegebene Offenheit wird nun zum Bestimmungsmerkmal des personalen Geistes, der in der Begegnung mit dem nichtexistentialen Sein des Weltgrundes seine konstitutive Grenzerfahrung macht. ,,Person", heißt es in einem unveröffentlichten Text von 1931, ,,ist die Erfahrung der Grenze, an der ein Diesseitig-Endliches sich gegen ein Jenseitig-Unendliches absetzt" (32: VOEGELIN, Herrschaftslehre, 17]. Diese Erfahrung bringt die Person zur Gewißheit ihres Eigenwesens, ihres Personkerns. Die empirische Bestimmung dessen, was Person in ihrem Kern sei, vollzieht sich in der philosophischen Selbstbesinnung. Voegelin hält also mit Dilthey daran fest, daß die Selbstbesinnung als zentrales Prinzip der Geisteswissenschaft deren Fundament bloßlegt, doch unter dem Eindruck von Augustin, Descartes und Husserl deutet er Selbstbesinnung als Meditation im klassisch-christlichen Sinn. Erst in der meditativen Bewegung zum Transzendenzpunkt des ,nichtexistentialen' Seins bringt die Selbstbesinnung den ontischen Ort des menschlichen Wesens zum Vorschein.
Diese Grundlegung der philosophischen Anthropologie durch Selbstbesinnung dient jedoch nicht der freischwebenden Spekulation über den Menschen als solchen, sondern sie hat sich als heuristisches Instrument an der Erforschung der konkreten Zeugnisse des Geistes zu bewähren. Der Geist läßt sich nicht in seinem zeitlosen Ansich fassen, sondern man kann „zu ihm nur vordringen durch die wissenschaftliche Bearbeitung seiner historischen Wirklichkeit" [32: 20]. Darin wird versucht, die philosophische Anthropologie als Theorie der Geisteswissenschaften begreiflich zu machen und in wissenschaftlicher Begrifflichkeit auszudrücken
VON DER KRITISCHEN ANALYSE DER RASSENIDEE (1933) ZU DEN POLITISCHEN RELIGIONEN (1938)
Voegelin führte allerdings das Programm einer systematischen Hermeneutik der Hinwendung Staatswirklichkeit vorerst nicht durch, sondern macht die ideologisch-politischen Themen der Zeit zum Gegenstand seiner Analyse. In „Rasse und Staat" (1933), ,,Die Rassenidee in der Geistesgeschichte" (1933), „Der autoritäre Staat“ (1936) und schließlich in den „Politischen Religionen" (1938) untersucht er die zentralen Aspekte der politischen Gemeinschaftsbildung in den verspäteten Nationen Europas und die hierfür konstitutiven Persons und Gemeinschaftsideen. Während aber die westlichen Staatsnationen idealtypisch in ihrem politischen Bewußtsein und ihrem politischen Handeln nach noch im christlichen Horizont wurzeln und „den politischen Menschen noch wesentlich unter dem Primat der Kategorie der Person formen, nicht unter der Kategorie des Gliedes eines weltlichen Kollektivums", führt die Erschütterung des christlichen Kosmos insbesondere im deutschsprachigen Raum zu massenwirksamen Ideologien, welche sich um die Realfaktoren (Scheler) von Macht, Wirtschaft und Blut kristallisieren und Einfluß auf die Gestaltung des Staates gewinnen [21: VOEGELIN, Rasse und Staat, 98-102].
Rekapitulieren wir den Zusammenhang: Der Entwurf einer philosophischen Anthropologie aus „der generellen und geschichtlichen Seinsoffenheit des Menschen" [4: VOEGELIN, Der autoritäre Staat, 107) restituiert die verlorene „Offenheit des Ich", um die metaphysischen und ethischen Voraussetzungen des sittlichen Handelns wiederzugewinnen, deren sich der Deutsche nicht mehr gewiß sein kann. Aus dem europäischen Gegentypus des „geschlossenen Ich" entfaltet Voegelin nunmehr die entscheidenden Momente eines nachchristlichen, zunehmend durch die Vitalstärke determinierten Bildes des menschlichen Wesens: Das „A-typische", das „Ab-normale", das „A-rationale", das „Ungeordnete" in der menschlichen Erfahrung gewinnt vermehrt Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Existenz. In der ethischen Sphäre „zieht sich in dichter Reihe der Übergänge die Auflösung des Rationalen und die Neusetzung des a-rationalen Lebens als Quelle des Gesetzes über Fichte, Nietzsche, Bergson zu Simmel und Max Weber – in alle Spekulationen über das sittliche Phänomen, die um Begriffe wie Existenz, Haltung, konkrete Situation, Verantwortung, Augenblick, Entscheidung kreisen" [21: VOEGELIN, Rasse und Staat, 94f.; die Anspielung auf Schmitt und Heidegger ist unverkennbar]. In diesem Kontext steht die geisteswissenschaftliche Analyse der Rassenidee, ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft aus der modernen Welterfahrung seit Ausgang des 18.Jahrhundens und ihrer Funktion in der politischen Ideenwelt der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus. Voegelin unterzieht die Rassenlehre einer methodischen Kritik dahingehend, daß eine naturwissenschaftlich konzipierte Anthropologie niemals wissenschaftlich relevante Aussagen über geistige Sachverhalte, also den Mensehen als geistiges Gesamtwesen machen könne [vgl. weiter: 2: VOEGELIN, Rasse und Staat).
Die 1938 erschienene Studie "Die politischen Religionen" ist unter dem Eindruck der politischen Entwicklung in einer sehr viel dezidierteren Sprache geschrieben. Sie erweitert den materialen Horizont für die Untersuchung von Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus, und stellt das Phänomen in einen universalhistorischen Zusammenhang – bezeichnet durch den Begriff der "politischen Religion". Schließlich wird deutlich, daß die im ontisch strukturierten Spannungsgefüge des menschlichen Daseins eröffnete Erfahrungswirklichkeit und der in ihr gegebene Stufenbau des Seins sich in den menschlichen Möglichkeiten der Selbstdeutung und der politischen Vergesellschaftung widerspiegeln. Darüber hinaus zeigt sich, daß die Probleme der Ordnung und Unordnung der menschlichen Existenz in Gesellschaft unmittelbar mit der Selbstverständigung des Menschen über seine Stellung im umfassenden Ganzen des erfahrenen Seins verknüpft sind. Im Vorwort zur zweiten, in Schweden gedruckten Auflage, präzisiert Voegelin seine theoretische Intention : Es ist nicht mit der Verurteilung des Nationalsozialismus getan – sie "lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, daß sich hinter den ethisch verwerflichen Handlungen ein tieferes und gefährlicheres Übel verbirgt, nämlich die Tatsache des Bösen als in der Welt wirksame Substanz und Kraft". Mit der Aufdeckung dieser religiösen Wurzeln des Nationalsozialismus in der Säkularisirrung des Geistes und des Lebens kann erst der Kampf gegen den Nationalsozialismus radikal geführt werden, d. h. das „Luziferische“ seiner Anziehungskraft erkannt und durch die Aktivierung der Kraft des Guten Widerstand geleistet werden (5: VOEGELIN, Politische Religionen, 8 f.J. Die geisteswissenschaftlich-anthropologische Position nimmt hier in Sprache und Argumentation eine ausgesprochen christliche Färbung an – wohl Folge des intensiven ThomasStudium und der Beschäftigung mit der christlichen Philosophie des Mittelalters im Rahmen der Analyse des österreichischen Korporatismus.
Voegelin vertieft seine in "Rasse und Staat" angestellten Überlegungen zur modernen politischen Ideenbildung und stößt zum Quellgrund aller menschlichen Erfahrung vor: dem "religiösen" Erlebnis der Kreatürlichkeit und der Fragwürdigkeit der Existenz. Ihm entspringen eine Fülle von Erregungen, welche sich suchend "auf ein überpersönliches, übermächtiges Etwas" richten. „In allen Richtungen, in denen die menschliche Existenz zur Welt hin offen ist, kann das umgebende Jenseits gesucht und gefunden werden: im Leib und im Geist, im Menschen und in der Gemeinschaft, in der Natur und in Gott. Die große Zahl der grundsätzlichen Möglichkeiten und die unendliche der geschichtlich-konkreten, die sich hier auftut, verbindet sich mit den Versuchen der Selbstdeutung, mit allen Mißverständnissen und Kampfverzerrungen zu einer unerschöpflichen Fülle an Erlebnissen, ihren Rationalisierungen und Systembildungen".
Die grundsätzlichen Möglichkeiten resultieren aber aus dem ontischen Bau des menschlichen Wesens: "Dem einen stehen die Tore seiner Existenz weit offen über die Stufen des Seins von der unbelebten Natur bis zu Gott; die Welt entfaltet sich ihm weit, ihre Inhalte treten in ein durchdachtes Verhältnis zueinander, sie schließen sich zu einer Seinsordnung mit der Wertordnung der Seinsstufen zu einer Rangordnung und als Antwort auf die Frage nach dem Grund des Seins zu einer Schöpfungsordnung". In der Offenheit des Daseins erwächst ein Bild von der Ordnung des Seins. Für andere Menschen aber wird die Natur, ein großer Mann, sein Volk, die Menschheit zum „Allerwirklichsten", es rückt an die Stelle Gottes, und verdeckt ihm dadurch alles andere, - auch, und vor allem Gott. Wo immer also "ein Wirkliches im religiösen Erlebnis sich als ein Heiliges zu erkennen gibt, wird es zum Allerwirklichsten" und die Wirklichkeit kristallisiert sich um das als Göttlich erkannte. "Welten von Symbolen, Sprachzeichen und Begriffen ordnen sich um den heiligen Mittelpunkt, verfestigen sich zu Systemen . . ., werden fanatisch als ,richtige' Ordnung des Seins verteidigt" [5: 16-18].
Seinen geschichtlich-konkreten Ausdruck findet dieser Sachverhalt in der „Politischen Religiosität" als Quellgrund politischer Gemeinschaftsbildung: In der politischen Gemeinschaft lebt der Mensch mit allen Zügen seines Wesens von den leiblichen bis zu den geistigen und religiösen". Voegelin exemplifiziert dies in einer historischen tour d'horizon von den ägyptischen Pharaonen über die antike Polis, das mittelalterliche Imperium bis zum modernen Staat und den modernen politischen Massenbewegungen. "Immer ist die politische Gemeinschaft in den Zusammenhang des Welt- und Gotterlebens des Menschen eingegliedert, sei es, daß der politische Bereich eine untere Stufe der göttlichen Ordnung einnimmt, sei es, daß er selbst vergöttlicht wird". So kann Voegelin in Fortführung seiner Darlegung aus Rasse und Staat den spezifischen Charakter der modernen partikularen Gemeinschaftsbildung herausarbeiten: Sie gründen in einer innerweltlichen Religiosität, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt findet, verbunden mit einem eigenen Mythos der Erlösung.
Die ins einzelne gehende Untersuchung des Nationalsozialismus erweist das rassisch determinierte Volk als Realissimum, in dem Erlösung gesucht wird, durchwaltet von triebhaften Ekstasen, die im „Blutrausch der Tat münden" [5: 60]. Sein Urteil kleidet Voegelin in die Sprache der "christlichen Entscheidung": „Die innerweltliche Religiosität, die das Kollektivum, sei es die Menschheit, das Volk, die Klasse, die Rasse oder den Staat als Realissimum erlebt, ist Abfall von Gott" [5: 65].
VOEGELINS THEORIE DES BEWUSSTSEINS: OFFENER DISKURS STATT DOGMATISCHER SATZUNG
Verwandelt Voegelin nunmehr die geisteswissenschaftliche Anthropologie in eine christliche Metaphysik? Dagegen spricht, daß die forschungsleitende Prämisse, nämlich der anthropologische Ursprung der Erkenntnis der Seinswirklichkeit in der symbolisch vermittelten Existentialerfahrung des Menschen nicht aufgegeben wird. Voegelin – im Jahre 1938 aus dem Universitätsdienst in Wien entlassen und in die USA emigriert – entfaltet in der Folge die theoretischen Implikationen der geisteswissenschaftlichen Anthropologie in einer Philosophie der gesellschaftlichen Ordnung. Trotz ihres gelegentlich apodiktischen Tones zielen Voegelins Formulierungen jedoch nicht auf die dogmatische Setzung letzter Wahrheiten über gesellschaftliche Ordnung. Sie sind vielmehr zu verstehen als die Beschreibung eines fortlaufenden offenen Diskurses, welcher das kognitive Moment der empirischen Forschung mit dem existentiellen Moment philosophierender Reflexion verschmilzt. Die meditative Öffnung des Bewußtseins und die wissenschaftliche Durchdringung der geschichtlichen Gestalten menschlicher Selbstdeutung sind wechselseitig aufeinander bezogen. Sie treffen sich in der Erkenntnis, daß in der Dynamik des menschlichen Bemühens um den richtigen Ausdruck von Ordnung das Formprinzip der geschichtlich-sozialen Realität zu finden ist.
Diese Sätze fassen summarisch das Ergebnis der Forschungsarbeit Voegelins in den Jahren 1939 bis 1949 zusammen. Zum einen gewinnt in der Rezeption des transzendenzoffenen christlichen Denkens die meditativ gewonnene Offenheit der Person als Bestimmungsgrund der Menschenwesentlichkeit ihre geschichtliche Tiefe, welche der geisteswissenschaftlichen Anthropologie abging. In der anschließenden Zuwendung zu dem anderen großen Komplex der westlichen Tradition, der griechischen Philosophie, fand Voegelin eine Theorie der Gemeinschaft. Deren Bedeutung lag für Voegelin ursprünglich im platonischen Gedanken der Erneuerung einer krisengeschüttelten Gesellschaft. Er sah sich mit dem "Platonischen Problem der Schöpfung eines Menschenbildes" konfrontiert, "das einer Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Situation als Ordnungsprinzip dienen sollte . . ." [23: VOEGELIN, Nietzsche, 195]. Zum zweiten aber warf ein solcher »Platonismus in der Politik", d. h. die Formulierung eines der Wesensgesetzlichkeit des Menschen entsprechenden „Modell(s) der richtigen Ordnung" die Frage nach dem Ursprung und Ort der Erfahrung von Ordnung auf. Wer die christlichen und platonischen Erfahrungen wiedergewinnen wollte, den mußte die meditative Reflexion zum Quellgrund dieser Erfahrungen, nämlich zum menschlichen Bewußtsein führen. Die philosophische Anthropologie kam bisher ohne diesen Begriff aus, weil Voegelin mit dem Seheiersehen "Geist" arbeitete. Doch nunmehr mußte er das menschliche Ordnungszentrum selbst analysieren, und dieses war nur in Gestalt einer Analyse des Bewußtseins möglich. So erweitert sich die philosophische Selbstbesinnung zur Theorie des Bewußtseins.
In der Theorie des Bewußtseins wird die Erfahrungspsychologie zur bewußtseinsphilosophischen Reflexion vertieft und die Erfahrung von Ordnung, ihre symbolischen Ausdrücke, die sie fundierenden Institutionen und schließlich die Ordnung des Bewußtseins selbst zum Gegenstand des Nachdenkens. Dieses Bewußtsein als ein in sich erhellter Prozeß, der einzige Prozeß den wir "von innen" kennen, muß als Grunderfahrung behandelt werden, von der das Philosophieren auszugehen habe. Die Momente augenblicklicher Erhellung gewinnen „Präsenz", d. h. innere Ordnung und Dimension, aufgrund des dem Bewußtsein als menschlichem, d. h. leiblich und außenweltlich fundiertem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtigen Interpretationsrahmens in bewußtseinstranszendenten Prozessen. Indem das Bewußtsein sich dem partikularen Sein und der Welt einschließlich der mitmenschlichen Welt zuwendet, erhellt es sich die innerweltliche Struktur, gewinnt Wissen von ihr. Dieses Wissen betrifft aber niemals das „Sein im Ganzen". Es enthält aber sehr wohl das die raum-zeitliche Erfahrung übersteigende Moment des "ungegenständlichen" oder "nichtexistenten" Realen und impliziert eine der Bewußtseinsstruktur eigentümliche Spannung zum nichtgegenständlichen Pol des Seins in Gestalt eines wissenden Fragens und fragenden Wissens. Dem entspringt die meditative Bewegung des anamnetischen Rekurses auf den "ungegenständlichen" Grund alles Seienden, in der sich dem Menschen die volle Erfahrungswirklichkeit der Humanität unter dem Horizont seiner Endlichkeit eröffnet. Voegelin nennt den in dieser Spannung enthaltenen Richtungsfaktor Ratio und spricht von der Ratio „als der Sachstruktur des Bewußtseins und seiner Ordnung". In der existentiellen Offenheit zum Seinsgrund gewinnt der Mensch seine Rationalität, das Sichverschließen läßt sich „als Irrationalität charakterisieren" [23: 289].
Diese Erfahrungswirklichkeit des Bewußtseins spiegelt sich widern in der die Ordnungsrelationen des menschlichen Daseins bestimmenden Existenzspannung zwischen Ewigkeit und Zeit, Unsterblichkeit und Sterblichkeit, Fülle und Mangel, Wahrheit und Unwahrheit, Ordnung und Unordnung. Den durch diese Existenzspannung gegebenen ontischen Ort des Menschen belegt Voegelin später mit dem platonischen Begriff der metaxy – jenem „Zwischen", das weder Zeit noch Ewigkeit ist, sondern das Zusammenspiel von Zeitlichem und Ewigem in der Humanität des endlichen Menschen artikuliert.
Die Philosophie des Bewußtseins wird zum „Kernstück einer Philosophie der Politik". Diese ist, sagt Voegelin, ,,empirisch – im prägnanten Sinne einer Untersuchung von Erfahrungen, die ordnend den gesamten Erfahrungsbereich des Menschen durchdringen. Ihre Arbeit erfordert . . . den steten Wechsel zwischen Untersuchungen konkreter Ordnungsphänomene und Analyse des Bewußtseins, von dem her die menschliche Ordnung in Gesellschaft und Geschichte verstehb ar wird" [10: VOEGELIN, Anamnesis, 7f.]. Hierin kommt die Einsicht zum Ausdruck, daß es keinen absoluten Ansatz des Philosophierens gibt: ,,Immer lebt der Philosophierende im Kontext seiner eigenen Geschichte als der Geschichte einer menschlichen Existenz in Gemeinschaft und in der Welt" [10: 58]. So ist die philosophische Reflexion auf die Ursprünge der Erfahrung von Ordnung in der psychischen Tiefe des philosophierenden Bewußtseins eingebunden in die geschichtliche Reflexion auf das geschichtliche Feld des menschlichen Ringens um Ordnung und Wahrheit der Existenz.
DIE „NEUE WISSENSCHAFT DER POLITIK" (1952) UND ,,ORDER AND HISTORY" (1956FF)
Auf der Basis einer bewußtseinsphilosophisch fundierten Hermeneutik des geschichtlich-sozialen Lebens arbeitet Voegelin im Verlauf umfangreicher geschichtlicher Studien eine Geschichte der politischen Ideen aus. Erste Resultate stellte die bereits mehrfach erwähnte programmatische Schrift „The New Science of Politics" (1952, dt. 1959) vor. Programmatisch deswegen, weil diese Studie aus dem Problem der Repräsentation die Grundfragen der politischen Vergesellschaftung entwickelte und derart in eine Interpretation der westlichen Geistesgeschichte integrierte, daß dem Leser schließlich eine in materialem Gehalt und Kategorie-bildung konsequent auf die hellenisch-philosophische und die christliche Ordnungserfahrung bezogene Theorie der Politik entgegentrat (9: VOEGELIN, Neue Wissenschaft, 116). Unter diesem Horizont aber dehnt Voegelin nun seine in den „Politischen Religionen" explizierte Sicht der politischen Massenbewegung auf die Modeme insgesamt aus. Sie ist für ihn ihrem Wesen nach vom Geist des ,,Gnostizismus" geprägt. Diese These geht von der religionsgeschichtlichen Feststellung aus, daß die Gnosis der Antike eine eigenständige, im geistigen Kraftfeld der nahöstlichen Kultur entstandene Religion sei (H. Jonas, G. Quispel), die das Christentum affiziert und in der häretischen Tradition des mittelalterlichen Sektenwesens fortgelebt habe. In ihrer modernen Gestalt ist sie gesellschafts und geistesgeschichtlich ein Produkt der Wechselbeziehung von Zivilisationswachstum und Zerfall des christlichen Glaubens zum Ausgang des Mittelalters: Aus der häretisch-gnostischen Tradition erwächst eine variantenreiche innerweltliche Erlösungslehre. ,,Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete" [9: 182]. Diese Entwicklung kulminiert in den modernen ideologischen Massenbewegungen und ihrer gnostischen Politik der Destruktion des Menschen. Die deutsche Revolution aber „war ein Phänomen hemmungsloser Modernität" dem gegenüber „die amerikanische und englische Demokratie die älteste, am festesten konsolidierte Schicht kultureller Tradition darstellt" (9: 259].
Seine Untersuchung regte Voegelin zu dem „Gedanken eines Kulturzyklus von welthistorischen Ausmaßen an . . . ": ,,Den Höhepunkt dieses Zyklus würde das Erscheinen Christi bezeichnen; die vorchristlichen Zivilisationen wären sein aufsteigender, die moderne gnostische sein absteigender Ast" (9: 226). Die oft apodiktische Sprache, der Verzicht auf die Erläuterung der bewußtseinsphilosophischen Probleme und schließlich die provokative geschichtsphilosophische Grundthese brachten Voegelin den Ruf eines dogmatischen christlichen Denkers ein, der er weder sein wollte, noch sein konnte. Denn schon die ersten, 1956 und 1957 publizierten Bände von „Order and History" – angelegt als „eine philosophische Erforschung der Ordnung des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte innerhalb der Grenzen der empirischen Wissenschaft" [7: VOEGELIN, Order and History I, X] - gehen nicht nur in ihrer Materialfülle sondern auch in der theoretischen Konzeption über die Position der „New Science of Politics" hinaus, wenngleich die Grundlinien der Argumentation erhalten bleiben. Der vierte Band jedoch, 1974 erschienen, zeugt zusammen mit anderen Arbeiten von grundsätzlichen Revisionen des ursprünglichen Ansatzes. Diese berührten nicht die erkenntnisleitenden Prinzipien des Forschungsprogrammes, sondern ergaben sich aus ihnen. Eine reflexive Exploration der in den geschichtlichen Symbolwelten beschlossenen „selbstinterpretativen Erfahrungswelt" [15a: VOEGELIN, Autobiographical Reflections, 50] des Menschlichen vollzieht sich praktisch unter dem empirischen Horizont des laufenden Forschungsprozesses der historisch-sozialen Wissenschaften und dessen jeweiliger Resultate. Das Unternehmen der Theoretisierung ist somit den eigenen Prinzipien entsprechend unabgeschlossen. Eine erschöpfende Darstellung des inhaltlichen Reichtums von „Order and History" ist – auch in gedrängter Form – unmöglich. Wir beschränken uns darum auf die Darlegung einiger zentraler Gedanken.
Ausgangspunkt ist die Verpflichtung des Menschen, seine Lage zu verstehen. Die gesellschaftliche Ordnung, in der der Mensch lebt, ist Teil der condition humaine und zum gegenwärtigen Zeitpunkt erdumspannend. Sie ist nicht neuen Datums und auch nicht einfach strukturiert, sondern enthält in sich als sozial wirksame Kräfte die Sedimente eines jahrtausendealten Ringens um die Wahrheit der Ordnung [7: XIII]. In der philosophisch-historischen Vergegenwärtigung der geschichtlichen Gestalten dieses Ringens gewinnt der Mensch die entscheidende Einsicht in seine geschichtliche Lage, indem er den westlichen Zivilisationsprozeß retrospektiv als einen intelligiblen Zusammenhang begreift, dessen innere Ordnung die Ordnung der Geschichte insgesamt als einen sinnhaften Prozeß der Selbstverständigung des Menschen über sich selbst im Drama des Seins durchsichtig macht. Die Ordnung der Geschichte geht aus der Geschichte der Ordnung hervor, in der sich die Menschheit als Subjekt der Geschichte konstituiert. ,,Die Menschheit ist weder eine bloße Spezies im biologischen Sinn, noch ist die einzelne Gesellschaft ausschließlich bestimmt durch Merkmale, die den Gattungscharakter der menschlichen Gesellschaft schlechthin ausmachen. Während alle Gesellschaften und ihre Ordnungen die Gattungsmerkmale besitzen, durch welche wir sie als solche erkennen, bleiben diese Merkmale doch unauflöslich verwoben mit den singularen Merkmalen, welche die Gesellschaften aufgrund ihres Status in der Geschichte und kraft ihrer Teilhabe an einer sich entfaltenden Ordnung haben, welche die Menschheit als mehr erweist als nur eine Spezies" [8: VOEGELIN, Order and History II, 2]. Da dieser Prozeß verstehb ar ist, lassen sich in der Geschichte Sinnlinien feststellen. Dies führt aber nicht zur Entdeckung des Sinnes oder Zieles des prinzipiell zukunftsoffenen Geschichtsprozesses. Indem die Untersuchung „empirisch den Sinnmustern folgt, wie sie sich in der Selbstinterpretation von Personen und Gesellschaften in der Geschichte offenbaren" [11: VOEGELIN, Order and History IV, 5 7], eröffnet sich ihr das „Bewußtsein des Menschen von seiner Humanität im Prozeß seiner geschichtlichen Differenzierung" als das bewegende Moment des geschichtlichen Prozesses [11: 302).
Materialiter war „Order and History“ in seiner ursprünglichen Konzeption die Darstellung der Haupttypen politischer Ordnung und ihrer symbolischen Ausdrucksformen in einer linearen Abfolge von den altorientalischen Reichen bis zur Krise der westlichen Zivilisation. Die einzelnen Bände behandeln die imperiale Organisation des Alten Orients und ihrer Existenz in der Form des kosmologischen Mythos und das Auserwählten Volk und seine Existenz in geschichtlicher Form unter dem Titel „Israel and Revelation". Dann folgen die Polis und ihr Mythos, sowie die Entwicklung der Philosophie als symbolische Form der Ordnung in den beiden Bänden „The World of the Polis" und „Plato and Aristotle".
Methodisch hält sich Voegelin an die von Toynbee vorgeschlagene Konzeption Zivilisation und der Zivilisation als Untersuchungseinheit. Den inneren Zusammenhang der Entfaltung des Ordnungsdenkens findet Voegelin in einem erweiterten und revidierten Begriff der Jaspers'schen weltgeschichtlichen „Achsenzeit", jener für die großen Zivilisationen eigentümlichen geistig-religiösen Aus- und Umbrüche zwischen 800 v. Chr. und 200 v. Chr. mit ihrem Höhepunkt um 500 v. Chr., in denen „der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird" (JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt 1955, 15]. Im Gegensatz zu Jaspers hält Voegelin den Ausschluß des Christentums für empirisch unzulässig und revidiert das Konzept dementsprechend. Andererseits läßt er China und Indien beiseite, weil die dortigen Durchbrüche zu einem Bewußtsein der Humanität die kosmologische Ordnung nicht überwunden haben. Im Falle Chinas und Indiens vermißt er die vollendete Differenzierung der Erfahrungswirklichkeit von Gott und Mensch, Welt und Natur, Gesellschaft und Geschichte, in welcher der Mensch erst zum vollen Bewußtsein seiner Erkenntnis und Handlungsfähigkeiten in einer von ihm verantworteten Welt gelangt.
Zentrales Thema Voegelins ist der Bruch mit der kosmologischen Ordnungserfahrung und deren kompaktem Mythos. Die Antwort ist das Voranschreiten von den kompakten zu den differenzierten Erfahrungen und Symbolen. Der Mensch tritt dabei aus der kosmisch-göttlichen Ordnung der frühen Hochkultur in die differenzierte Erfahrung der von ihm zu verantwortenden Freiheit unter einer göttlich-transzendenten Ordnung. Die Akte der Differenzierung in Israel und Hellas – Voegelin nennt sie Sprünge der Seinserfahrung – sind die menschheitsgeschichdich-epochalen Antworten auf die Krise der kosmologischen Gesellschaften. Die altisraelisch-chrisdiche Antwort entspringt der Auslegung der Worte des transzendenten „Gottes": Dieser in einer gemeinschaftsstiftenden Erfahrung als Grund aller Dinge begriffene Gott akzentuiert den geschichtlichen Auftrag an das Auserwählten Volk als Repräsentation einer alle Menschen erfassenden Wahrheit. In der hellenischen Bürgerpolis knüpft die Antwort an die Solonsche Suche nach dem ,unsichtbaren Maß' der Ordnung in Kosmos und Polis an. In der Erfahrung des einen Grundes (der Logos des Heraklit, das Agathon Platons, der Nous des Aristoteles) finden die Menschen das orientierende Zentrum ihres gemeinsamen Lebens qua ihres Menschseins. Aus der Entdeckung der universalen Ordnung der Menschen unter Gott im alten Israel resultiert der Begriff der Menschheit als Subjekt der Geschichte. Aus der Erfahrung des „unsichtbaren Maßes" in der hellenischen Philosophie konstituiert sich das Wissen um die gesellschaftliche Verfassung des Menschen. Israelische Gotteserfahrung und hellenische Seinserfahrung treffen sich in der eigentümlichen geschichtlichen Form der westlichen Gesellschaft, der allein wir die Bedingungen der Möglichkeit einer Philosophie der Ordnung und der Geschichte verdanken. Denn ohne den „Seinssprung", welcher Gott und Mensch in ihre wechselseitige Präsenz bringt, ohne die Kreation der Geschichte, als die innere Form der Existenz in Opposition zur kosmologischen Ordnungsform, gäbe es kein Problem einer Geschichte der Menschheit; und „ohne die Entdeckung des Logos in der Psyche und in der Welt, ohne die Kreation der philosophischen Existenz würde das Problem der Geschichte nicht zu einem Problem der Philosophie" [8: VOEGELIN, Order and History II, 7]. Wenn auch der Horizont der Untersuchung angesichts des wachsenden geschichtlichen Wissens global sein muß, so ist doch eine kritische Philosophie der Ordnung und der Geschichte ihrem Begründungszusammenhang nach mit Notwendigkeit eine westliche Symbolform mit universalgeschichtlichem Anspruch.
Die Folgebände sollten der ursprünglichen Konzeption entsprechend „die multizivilisatorischen Reiche seit Alexander und die Entwicklung des Christentums" unter dem Titel „Empire and Christianity" sowie den modernen Nationalstaat und die Entwicklung der Gnosis als symbolischer Ordnungsform unter den Titeln ,,T he Protestant Centuries" und „The Crisis of Western Civilisation" behandeln. Doch die Logik der empirischen Forschung und die durch diese inspirierte theoretische Reflexion ließen Voegelin von dem ursprünglichen Programm der linear angelegten Entwicklung der gesellschaftlichen und symbolischen Ordnungsformen abkommen. Der vierte Band - ,,The Ecoumenic Age", vollendet nach Abschluß seiner zehnjährigen Tätigkeit in Deutschland – stellt die Interpretation des Christentums, der antiken Gnosis, des Islam und des Alten China in den Kontext der geschichtlichen Konstellation des Oikoumenischen Zeitalters von 800 v. Chr. bis 800 n. Chr. Innerhalb des Spektrums der Ordnung des Oikoumenischen Zeitalters, entfalten sich die für das Bewußtsein einer universalen Menschheit konstitutiven Elemente: geistiger Durchbruch in Differenzierungserlebnissen, Entdekkung der Geschichtlichkeit in der Historiographie und die damit verknüpften Formen der Weltreichbildung. In den parallelen Erscheinungen einer westlichen und einer fernöstlichen Menschheitsoikoumene stellt sich die Frage nach einer globalen Menschheit, die nicht mehr Subjekt einer Zivilisationsgeschichte sein kann.
Die Entdeckung einer globalen Menschheit im Oikoumenischen Zeitalter ließ Voegelin von der These abgehen, daß die Menschheit in der hellenisch-christlichjüdischen Formierung zu ihrem Bewußtsein als Subjekt der Geschichte gelangt ist. „Waren die Gesellschaften, die nicht in den (westlichen J.G.) Prozeß involviert waren – das nicht-mediterrane Afrika und Europa, der Ferne Osten und die Amerikas – ausgeschlossen von der Universalität?" (8: 85] Es ist nun nicht mehr möglich, die empirischen Ordnungstypen unter dem Gesichtspunkt der Manifestation der Wahrheit in einer linearen Folge anzuordnen. Vielmehr handelt es sich um „ein offenes geschichtliches Feld größerer und kleinerer Begegnungen von Göttlichem und Menschlichem, weit verstreut in Raum und Zeit über die Gesellschaften, welche insgesamt die Menschheit in ihrer Geschichte ausmachen" (33: VOEGELIN, The Beginning and the Beyond, 12). Die Sinnlinien und -muster dieses geschichtlichen Feldes reflektieren „die Vielfalt differenzierender Akte, die sich an verschiedenen Punkten in der Zeit und voneinander unabhängig in konkreten menschlichen Wesen und Gesellschaften ereignen" (15a: VOEGELIN, Autobiographical Reflections, 83]; sie konstitutieren in ihrer Gesamtheit den intelligiblen geschichtlichen Prozeß als den offenen Prozeß der universalen Humanität. Die universale Humanität, so lautet die Schlußfolgerung, ist nicht eine existierende Entität, sondern symbolisiert die geschichtliche Äquivalenz der pluralen Modi der Teilhabe menschlicher Wesen an der einen präpersonalen nichtgegenständlichen Realität, welche über die immanente Wirklichkeit in der metaxy hinaus auf den transzendenten Grund der Humanität hinweist.
Der von Voegelin seinerzeit konzipierte Kulturzyklus der westlichen Geschichte geht in der übergreifenden weltgeschichtlichen Struktur auf, die vom Oikoumenischen Zeitalter ihren Ausgang nimmt: ,,(E)s tritt ein neuer Typ der oikoumenischen Humanität hervor, welcher mit all seinen aufs komplizierteste miteinander-verflochtenen Sinngehalten als eine jahrtausendealte Konstante in die moderne westliche Zivilisation hineinreicht" [33: 58]. Die Implikationen für das komplexe Sinnmuster der gesellschaftlichen Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Grund unserer Existenz erschließen sich der philosophischen Reflexion erst in der modernen Krise ihrer geschichtlich ausgebildeten doktrinären Formen. „Die Erweiterung des Horizontes" hatte Voegelin schon 1963 bemerkt, ,,wurde im klassischen wie auch christlichen Bereich des Philosophierens dadurch behindert, daß von den Ansätzen her der Durchbildung der philosophischen Begriffe, die zur Untersuchung des geschichtlichen Feldes notwendig werden, Schranken gesetzt waren, die erst in der Neuzeit fielen und heute soweit gefallen sind, daß das Arbeitsfeld freigeworden ist . . . ". ,,Wir stehen heute am Anfang großer philosophischer Entwicklungen durch die Entwicklung einer Philosophie der Geschichte, die zum erstenmal den Phänomenbereich in seiner globalen Breite und zeitlichen Tiefe zu erforschen hat" (10: VOEGELIN, Anamnesis, 278].
Die letzten Arbeiten Voegelins, insbesondere der unvollendete fünfte Band „In Search of Order" (1987 posthum veröffentlicht) kreisen um das Problem der philosophischen Reflexion und ihrer Sprache. Also um das Problem einer zeitgemäßen Symbolisierung des Ordnungsgehaltes der Suche des Menschen nach seiner Humanität in der Modeme, die der wesentlichen Aufgabe der Philosophie von heute gerecht wird: „Die Offenheit gegenüber der Realität wiederzugewinnen" [15a: VOEGELIN, Autobiographical Reflections, 72].
DIE REZEPTION VOEGELINS
Wie schon einleitend angemerkt, ist es schwer, sich ein Bild von der Rezeption des Werkes Voegelins in den wissenschaftlichen und intellektuellen Diskursen zu machen. In den 40er Jahren fiel Voegelin zusammen mit Leo Strauss in den USA eine entscheidende Rolle in der theoretischen Grundlagendiskussion der amerikanischen politischen Wissenschaft zu, in deren Zusammenhang Voegelin als Repräsentant einer antipositivistischen Philosophie der Politik eine gewisse Bedeutung erlangte [4 0: GUNNELL, Amer. Pol. Science ]. Die Aufnahme seiner Arbeiten in der politikwissenschaftlichen Fachwelt war zumeist mit erheblicher Kritik verbunden [39: GERMINO, Use, Misuse, and Neglect]. Erst in neuerer Zeit läßt sich ein wachsendes Interesse jüngerer politischer Philosophie an Voegelin feststellen, doch die „Schule Leo Strauss“ ebenso wie die hermeneutischen Schulen Gadamers und Habermas' haben eine ungleich größere Bedeutung als Voegelin erlangt, der, schon aufgrund seiner weitgespannten wissenschaftlichen Horizonte, keine eigentliche Schule hervorgebracht hat.
Eines gewissen Bekanntheitsgrades erfreut sich Voegelin nach wie vor bei den verschiedenen „konservativen Denkschulen" der USA, welche ebenso wie seine Gegner spezifischen Theoriestücken ihre besondere Aufmerksamkeit schenken; Voegelin selbst hat sich allerdings stets dezidiert gegen jede politische Einvernahme ausgesprochen. Bemerkenswert ist die Voegelin-Rezeption in der amerikanischen Theologie und Religionswissenschaft [42: KRRBYITHOMPSON (Hrsg.), Voegelin and the Theologians]. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen belegt die Resonanz der Ideen Voegelins in unterschiedlichen theologischen und religionswissenschaftlichen Diskursen.
Im deutschen Sprachraum kann, nach dem Weggang von Voegelin aus Europa 1969, von einer Fortentwicklung nur sehr bedingt gesprochen werden. Seine Werke wurden in Grenzen in der Freiburger und Münchener Schule der Politikwissenschaft rezipiert, doch insgesamt ergab eine Durchsicht der politikwissenschaftlichen Literatur im deutschsprachigen Raum, daß auf Voegelin nur ganz abstrakt unter Bezug auf „ The New Science of Politics" als Vertreter einer ontologisch-normativen Wissenschaft hingewiesen wird (47: 0PITZ, Spurensuche].
Große Aufmerksamkeit findet Voegelin neuerdings in Italien, wo seine Werke zum Teil schon in den 60er Jahren übersetzt und gelesen wurden. Die nachmarxistische Renaissance der italienischen politischen Philosophie führte zu einer bemerkenswerten Rezeption der Gedanken Voegelins [35: Duso, Filosofia politica; 48: RACINARO: Ordine e Storia]. Im übrigen Westeuropa und in Osteuropa beschäftigen sich mit Voegelin zumeist nur einzelne Gelehrte oder Gruppierungen.
Auswahlbibliographie
A. Werke Voegelins
l. SELBSTÄNDIGE VERÖFFENTLICHUNGEN
1. Über die Form des amerikanischen Geistes, Tübingen 1928.
2. Rasse und Staat, Tübingen 1933.
3 . Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, Berlin 1933.
4. Der autoritäre Staat, Wien 1936.
5. Die politischen Religionen, Wien, 1938, 2. Aufl., mit neuem Vorwort, Stockholm, Berlin 1939.
6. The New Science of Politics/An Introduction, Chicago 1952, New Foreword by Dante Germino, 1987.
7. Order and History, Vol. I: Israel and Revelation, Baton Rouge 1956.
8. Order and History, Vol. II: The World of the Polis, Baton Rouge 1957; Vol. III : Plato and Aristotle, Baton Rouge 1957.
9. Die neue Wissenschaft der Politik, München, 1959, mit neuem Vorwort versehene Übersetzung von The New Science of Politics, Sonderausgabe, Salzburg 1977.
10. Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966.
11. Order and History, Vol. IV: The Ecumenic Age, Baton Rouge 1974.
12. From Enlightenment to Revolution, H. Hallowell (Hrsg.), Durham 1975.
13 . Conversations with Eric Voegelin, E. O'Connor (Hrsg.), Montreal 1980.
14. Order and History, Vol. V: In Search of Order, Baton Rouge 1987.
15. Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, J. Opitz (Hrsg.), Stuttgart 1988. Enthält eine vollständige Bibliographie der Schriften und eine Auswahlbibliographie der Sekundärliteratur.
15a. Autobiographical Reflections, E. Sandoz (Hrsg.), Baton Rouge. 1989.
II. AUFSÄTZE
16. Über Max Weber, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Halle, Bd. III. 1925, 177-193.
17. Max Weber, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie IX (193 0) 1-16.
18. Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1930/3 1 (1930) 58-89.
19. Die Verfassungslehre von Carl Schmitt, Versuch einer konstruktiven Analyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien, in: Zeitschrift für öffentliches Recht XI (1931) 89-109.
20. Das Sollen im System Kants, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre. Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, A. Verdross (Hrsg.), Wien 1931,136-173.
21. Rasse und Staat, in: Psychologie des Gemeinschaftslebens, 0. Klemm (Hrsg.), Jena 1935, 91-104. 22. The Growth of the Race Idea, in: The Review of Politics 2 (1940) 283-317.
23. Nietzsche, The Crisis and the War, in: The Journal of Politics 6 (1944) 177-212.
24. Political Theory and the Pattern of General History, in: The American Political Science Review XXXVIII (1944) 746-754.
25. Gnostische Politik, Merkur, Stuttgart IV (1952) 301-317.
26. Religionsersatz. Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit, in: Wort und Wahrheit, XV (1960) 5-18.
27. Die industrielle Gesellschaft auf der Suche nach der Vernunft, in: Die industrielle Gesellschaft und die drei Welten, Das Seminar von Rheinfelden, Zürich 1961, 46-64.
28. Equivalences of Experience and Symbolization in History. In: Eternita e Storia: I valori permanenti nel divenire storico. Firenze 1970, 215-234. Deutsche Übersetzung, in: 17, S. 99-126.
29. Reason: The Classical Experience, The Southern Review, New Series X (1974) 237-264. Deutsche Übersetzung, in: 17, S. 127-165.
30. Quod Deus Dicitur, in: Journal of the American Academy of Religion LIII (1985) 569-584. Deutsche Übersetzung, in: 17, S. 180-204.
31. Rezension: Plessner Hellmuth, Macht und menschliche Natur, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 10 (193 1) 255 -257.
III. UNVERÖFFENTLICHTES
32. Herrschaftslehre.
33. The Beginning and the Beyond.
B. Sekundärliteratur
34. B. COOPER, The Political Theory of Eric Voegelin, New York 1986.
35. G. DUSO, Filosofia Politica E Pratica Dei Pensiero, Mailand 1988.
36. J. GEBHARDT, Was heißt Philosophieren über Politik heute? in: Zeitschrift für Politik 28 (1981) 138-149.
37. D. GERMINO: Political Philosophy and the Open Society, Baton Rouge 1982.
38. DERS., Eric Voegelin and the ,Between' of human life, in: A. de Crespigny/ K. Minogue (Hrsg.), Contemporary Political Philosophers. New York 1975, 100-118.
39. DERS., The Use, Misuse and Neglect of Eric Voegelin, in: American Political Science Review (erscheint demnächst).
40. J. G. GUNNELL, American Political Science, Liberalism, and the Invention of Political Theory, in: American Political Science Review 4 (1988) 71-87.
41. TH. HOLLWECK, Gedanken zur Arbeitsmethode Eric Voegelins, in: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) 136-152.
42. J. KIRBYIW. THOMPSON (Hrsg.), Voegelin and the Theologian: Ten Studies in Interpretation, New York 1983.
43. H. KUHN, Das Problem einer philosophischen Historiographie. Zum Werk von Eric Voegelin, in: Zeitschrift für Politik 28 (1981) 116-129.
44. F. LAWRENCE (Hrsg.), The Beginning and the Beyond: Papers from the Gadamer Voegelin Conferences: supplementary issue of the Lonergan Workshop V, Chico/Cal. 1984.
45. K. METZ, Unordnung und Geschichte, Historiographische Randbemerkungen zum Werk Eric Voegelins, in: Saeculum 3 4 (1983) 105-125.
46. P. OPITZ/G. SEBBA (Hrsg.), The Philosophy of Order: Essays on History, Philosophy, Consciousness and Politics: For Eric Voegelin on His Eightieth Birthday, Stuttgart 1981.
47. P. OPITZ, Spurensuche – zum Einfluß Eric Voegelins auf die Politische Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politik 3 6 (1989).
48. R. RACRNARO (Hrsg.), Ordine e Storia in Eric Voegelin, Neapel 1 988. 49. F. M. SCHMÖLZ (Hrsg.), Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963.
50. E. SANDOZ (Hrsg.), Eric Voegelin's Thought. A Critical Appraisal, Durham 1982.
51. E. SANDOZ, The Voegelinian Revolution. A Biographical Introduction, Baton Rouge 1981.
52. E. WEBB, Eric Voegelin: Philosopher of History, Seattle 1981.
53. Karl Graf Ballestrem, Henning Ottmann. Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts Herausgegeben. R. Oldenbourg Verlag, München 1990.
Zeittafel
1901 Eric Voegelin wird am 3. Januar in Köln geboren.
1910 Umzug der Familie nach Wien.
1922 Promotion zum Dr.rer.pol. in Wien.
1924-1927 Stipendiat der Rockefeller Foundation in den USA und Paris.
1928 Habilitation für Staatslehre und Soziologie.
1929-1936 Privatdozent an der Universität Wien.
1936-1938 Außerordentlicher Professor.
1938 Entlassung aus dem Universitätsdienst und Emigration in die USA.
1942-1959 Professor of Political Science Louisiana State University, Baton Rouge, USA.
1958-1969 o.Professor für Politische Wissenschaft, Universität München.
1969-1974 H. Salvatori Distinguished Scholar, Hoover Institution on War, Revolution, and Peace, Stanford, USA.
1974-1985 Senior Research Fellow ebenda.
1985 Eric Voegelin stirbt am 19. Januar in Stanford, USA.
© Wolfgang Liedhold Wolfgang Leidhold History of Experience read more - History of Experience (wolfgang-leidhold.com).
Veröffentlicht auf Voegelin Principles mit Genehmigung des Autors.