Dieser Beitrag ist entnommen Rüdiger Voigt/Ulrich Weiß (Hrsg.), Staatsdenker. Ein Handbuch, Stuttgart 2009, Veröffentlicht mit der Genehmigung von Eric-Voegelin-Gesellschaft und Peter J. Opitz, emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Instituts für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber zahlreicher Werke von und über Eric Voegelin.
Hat man das Gesamtwerk V.s im Blick, insbesondere sein opus magnum, die fünfbändige Order and History, so scheint keine Kategorie weniger auf ihn anwendbar als die des „Staatsdenkers“. Eher das Gegenteil ist der Fall. Sofern überhaupt, taucht der Begriff „Staat“ in diesem Werk nur am Rande auf. Das gilt auch, wenn man die zahlreichen kleineren Arbeiten einbezieht, die V. in den 1920er Jahren und zu Beginn der 1930er Jahre veröffentlichte. Lediglich im Titel von zwei seiner frühen Bücher – in Rasse und Staat (1933) sowie in Der Autoritäre Staat (1936) – findet sich der Begriff Staat, und gerade im Letzteren, in einer sehr spezifischen, auf eine aktuelle Problematik eingegrenzten Bedeutung.
Und doch: Bei genauerem Hinsehen bedarf dieser erste Eindruck zwar keiner grundsätzlichen Korrektur, aber doch einer Differenzierung. Denn gerade im Lichte der jüngsten Forschungen zum Frühwerk V.s werden zahlreiche Bezüge zum „Staatsdenken“ – in der Fachterminologie jener Zeit: zur „Staatslehre“ – sichtbar. Mehr noch: Verortet man dieses Frühwerk wiederum in den größeren werksgeschichtlichen Zusammenhängen so zeichnet sich im Denken V.s ein Prozess ab, den man – ein wenig vereinfacht – als den einer zunehmenden Emanzipation von der klassischen deutschen Staatslehre bezeichnen könnte. Dieser Prozess hatte in den 1920er Jahren eingesetzt und war schon bald so weit fortgeschritten, dass viele sich kaum noch seiner Anfänge erinnern. Nicht allerdings V. selbst. Vielmehr zeigt eine Reihe autobiographischer Bemerkungen, dass er selbst sich dieser Anfänge und Ursprünge seines Werkes auch später noch durchaus bewusst war. So bemerkte er in seiner Korrespondenz mit Karl Löwith, im Dezember 1944: „Ich bin nicht Philosoph, sondern nur von Beruf Staatslehrer und Verfassungsjurist; meine Vorlesungen und mein Hauptarbeitsgebiet sind jetzt American Government, Russian Government und British Empire.“ Diese berufliche Einordnung als „Staatslehrer und Verfassungsjurist“ bezog sich sowohl auf seine gegenwärtige Tätigkeit – V. hatte zwischen 1942 und 1958 an der Louisiana State University in Baton Rouge eine Professur für American Government inne – wie auch, und wohl vor allem, auf seine Ausbildung und seinen wissenschaftlichen Werdegang an der Universität Wien. Nach einer Assistententätigkeit an der Lehrkanzel für Öffentliches Recht bei Hans Kelsen (→) (1923/24 und 1927/29) hatte ihn die Juristische Fakultät 1928 für das Fach Gesellschaftslehre habilitiert und 1931 seine Venia auf Staatslehre erweitert, mit der Folge, dass V. von 1931 bis zu seiner Emigration im Sommer 1938 beide Disziplinen an der Wiener Universität vertrat.
Ihren literarischen Niederschlag fand diese Tätigkeit in einer Reihe von Aufsätzen zu staats- und verfassungsrechtlichen Themen in Fachzeitschriften. Von übergreifender Bedeutung war jedoch ein größeres Projekt, das V. 1929, schon bald nach seiner Rückkehr von einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt in den USA und Frankreich, begonnen hatte, und in dem er diese Studien zusammenführen wollte: ein System der Staatslehre. Der Titel war durchaus programmatisch gemeint: Denn in kritischer Abgrenzung zu den Staatslehren von Jellinek (→) und Kelsen, denen V. eine Verkürzung des Sachbereichs, vor allem aber einen Mangel an „systematischer Fundierung“ vorwarf, verfolgte sein Projekt das Ziel, diese Defizite zu beseitigen. Beabsichtigt war „die gesamte Regierungslehre mit den Begriffen der modernen Philosophie bezüglich der Ergebnisse der modernen Philosophie (Husserl, Heidegger, Jaspers in Deutschland, Dewey (→) in Amerika, Bergson in Frankreich) neu zu ordnen und zu formulieren und das System von der philosophischen Basis zu den Details des technischen Verfassungsrechtes zu führen.“ Während die systematische Absicht V.s in dem dreigliedrigen Aufbau seiner Staatslehre zum Ausdruck kam – sie sollte sich systematisch von einer „Herrschaftslehre“ über eine „Rechtslehre“ zu einer „Abhandlung der technischen Probleme des Verfassungsrechts“ entwickeln –, sollte eine das Ganze fundierende philosophische Anthropologie dem philosophischen Anliegen Rechnung tragen. Denn die „Grundidee“, auf der das Werk basierte, bildete die Auffassung, „dass die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen seien“. (Voegelin 1933, S. 2) Aufgrund der Auffassung, dass der Mensch an allen Seinsbereichen teilhat, vom Anorganischen bis zum Geistigen, im essentiellen Sinne aber der Geist sein Wesen ausmacht, ging es V. letztlich um den Entwurf einer Staatslehre als Geisteswissenschaft. Und so lautete denn auch der Titel einer Projektskizze aus den 30er Jahren.
Es war allerdings diese „Grundidee“ einer anthropologischen Fundierung, die das Projekt zum Scheitern brachte. Denn während die „Herrschaftslehre“ wie auch die „Rechtlehre“ schon bald fertig vorlagen, konfrontierte V. die philosophische Anthropologie – ungeachtet vorliegender Arbeiten von Scheler, Plessner, Groethuysen, Jaspers, Heidegger und anderer – mit schwierigen theoretischen Problemen, für die er zu dieser Zeit noch keine befriedigenden Lösungen parat hatte. Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten wandte er sich der Erforschung des Wesens „politischer Ideen“ zu. Dabei wurde dieser Schritt von der Auffassung getragen, dass die primäre Funktion einer „politischen Idee“ nicht kognitiv, sondern evokativ ist, d.h., dass sie kein Instrument zur Beschreibung einer politischen Einheit ist, sondern primär ein Instrument zu deren Erschaffung, und dass in den politischen Ideen das Bestreben zum Ausdruck kommt, einen endlichen Kosmos von Sinnhaftigkeit zu schaffen, um so die Erfahrung vom sinnlosen Charakter der menschlichen Existenz zu überwinden. Aufgrund dieser Annahme versprach das Studium politischer Ideen Einblicke in jene existentiellen Grund- und Grenzerfahrungen des Menschen, die nicht nur dem Staat zugrunde liegen, sondern ihn gewissermaßen hervortreiben.
Obwohl systematisch gesehen die Erforschung der „politischen Ideen“ somit in engem Zusammenhang mit den Studien zu einer Wesenslehre des Menschen, dem Fundament des Systems der Staatslehre, stand, war sie auch ein erster Schritt im Emanzipationsprozess von den positivistischen Staatslehren der Zeit, die, wie diejenige Kelsens, gerade eine solche Fundierung zurückwiesen. Und zugleich war sie ein erster Schritt in Richtung auf die platonisch-aristotelische Wissenschaft, die gerade auf einem solchen anthropologischen Fundament aufbaut. Ihr sollte sich V. in den kommenden Jahren zunehmend nähern.
Beides kommt in jenem Werk zum Ausdruck, das V. 1952 in den USA publizierte und das seine Reputation als politischer Philosoph begründete: in der New Science of Politics. In ihm erläuterte er sowohl die Distanzierung von der „Staatslehre im deutschen Sinne“, wie es 1959 in der Einleitung zur deutschen Ausgabe heißt, wie auch den Rückgriff auf die platonisch-aristotelische episteme – Letzterer allerdings nicht in Form einer dogmatischen Aufnahme platonisch-aristotelischer Doktrinen, sondern in Form einer Anknüpfung an die von Platon (→) und Aristoteles (→) geleistete „theoretische Grundlegung der Wissenschaft von menschlicher und gesellschaftlicher Ordnung“. (Voegelin 2004, S. 14) Genau in diesem Sinne charakterisierte V. schon 1951 die New Science of Politics als eine „systematische Studie zur Grundlegung einer Staatswissenschaft im platonischen Sinne (die eine Geschichtsphilosophie einbezieht)“ Nach dem System der Staatslehre bildete die New Science gewissermaßen den zweiten Anlauf, der mit dem ersten die „systematische“ Absicht teilte, darüber hinaus aber nun gerade das lieferte, was jenem noch gefehlt hatte und woran er deshalb gescheitert war: eine theoretische Grundlegung, einschließlich der zunächst noch fehlenden philosophischen Anthropologie.
Diese Grundlegung enthält nun – wie die zitierte Bemerkung zeigt – zweierlei: platonische Elemente wie auch eine Geschichtsphilosophie. In platonischer Hinsicht baut sie auf dem in der Politeia formulierten Prinzip auf, dass die Polis/der Staat der großgeschriebene Mensch ist, d.h. dass: (1) jede Gemeinschaft in ihrer Ordnung den Typus von Menschen darstellt, aus dem sie sich zusammensetzt; (2) Unordnung und Unordnung einer politischen Gemeinschaft Ausdruck der seelischen Verfassung des dominanten in ihr verbreiteten Menschentypus sind; (3) und sich Versuche zur Herstellung politischer Ordnung somit am Typus der richtig geordneten Seelenverfassung zu orientieren haben, wie Platon sie in der Person des Philosophen darstellte. Zugleich führt diese Grundlegung in einem wichtigen Punkt über dieses Prinzip hinaus: nämlich mit der zu Beginn der New Science formulierten Auffassung, dass die Existenz des Menschen in politischer Gemeinschaft „geschichtliche Existenz“ ist und dass eine Theorie der Politik, will sie zu den Prinzipien vorstoßen, zu einer „Philosophie der Geschichte“ werden muss. Unter „Geschichte“ versteht V. in diesem Zusammenhang nicht den Ablauf der äußeren Ereignisse, sondern substantiell den Prozess der Erfahrungen, „durch die der Mensch das Verständnis seiner Menschlichkeit und gleichzeitig das Verständnis seiner Grenzen gewinnt.“ (Voegelin 2004, S. 91) Kernstück dieser Erfahrungen ist dabei die „ontologische Einsicht“, dass der Mensch an allen Seinsbereichen, vom Organischen bis zum Geistigen teilhat, d.h., dass er zur Transzendenz offen ist und dass gerade diese Offenheit ein wesentliches Element seines Menschseins ausmacht. Das historische Element – und damit die historische Dimension der menschlichen Natur – ergibt sich nun daraus, dass dieses Verständnis des Menschen von seinem Menschsein und dessen Grenzen weder von Anfang an noch ein für alle Male gegeben ist, sondern dass es Veränderungen unterliegt sowohl in Form eines Zugewinns an Wissen durch Erfahrungen, die das kompakte Welt- und Selbstverständnis weiter differenzieren und auf eine höhere Stufe heben, wie aber auch in Form von Verlust und Verschließung gegenüber schon vorhandenen Einsichten. Als einen solchen Verlust und geistigen Verfall diagnostizierte V. die westliche Moderne und als politischen Ausdruck dieses Verfalls den Aufstieg der „politischen Religionen“ und der sie tragenden politischen Massenbewegungen und totalitären Regime.
Es war diese geschichtsphilosophisch geprägte Perspektive, die V. Ende der 1940er Jahre dazu veranlasste, eine schon fast fertig gestellte mehrbändige History of Political Ideas abzubrechen und sich der Erforschung der wichtigsten symbolischen Formen zuzuwenden, in denen der Mensch sein Verständnis von der Ordnung seiner Existenz in Gesellschaft und Geschichte zum Ausdruck brachte. Order and History, so der Titel des neuen Werkes, sollte diesen Prozess in der Abfolge der geschichtlich wichtigsten Symbolformen verfolgen. Wichtigste Stationen waren dabei der Alte Orient und die Symbolform des kosmologischen Mythos; Israel und die Symbolform der Geschichte; die griechische Polis und die Entwicklung der symbolischen Ordnungsform der Philosophie; die multikulturellen Reiche und die Symbolform des Christentums; sowie der moderne Nationalstaat und die Form der Gnosis. Mit dieser Öffnung zur zivilisationsübergreifenden Ökumene hatte sich die
Verbindung zu der am westlichen Nationalstaat orientierten klassischen Staatslehre noch weiter gelöst. Geblieben war allerdings auch weiterhin die schon 1933 formulierte „Grundidee“, die diesen Emanzipationsprozess zunächst ausgelöst und dann weiter vorangetrieben hatte: „dass die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen seien“. Und ihr ist letztlich auch die Wendung zu einer „Philosophie des Bewusstseins“ zuzuschreiben, die das Werk V.s in seiner letzten Phase erfuhr – ist das Bewusstsein doch der Ort, an dem die Probleme menschlicher Ordnung in Gesellschaft und Geschichte letztlich entspringen.
Die „Grundlegung“ politischer Ordnung durch eine philosophische Anthropologie, die schließlich die Form einer Philosophie des Bewusstseins annahm, bildet die Hauptlinie der politischen Theorie V.s. Wenn darüber andere Themen, die das Frühwerk bestimmt hatten, wie das einer „Herrschaftslehre“ oder einer „Rechtslehre“, auch zunehmend in den Hintergrund traten, so verschwanden sie doch keineswegs aus dem Blickfeld. Im Gegenteil, als Inhaber eines Lehrstuhls für „American Government“ bildeten sie im Bereich der Lehre auch weiterhin einen Kernbereich der Tätigkeit V.s. Das galt insbesondere für das angelsächsische Zivilregime, das V. zufolge „an nomothetischer Kunst und praktischem Erfolg alle anderen Verfassungsexperimente der Neuzeit“ überragt und dessen „Prinzipien an paradigmatischem Wert den Modellkonstruktionen eines Platon und Aristoteles“ gleichkommen. Ungeachtet dieser hohen Wertschätzung hat sich V. dem angelsächsischen Zivilregime in keiner eigenen Publikation gewidmet – die Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen, denen politische Ordnung gerecht werden muss, erschien ihm wichtiger.
Hauptwerke: Herrschaftslehre, München: Eric-Voegelin-Archiv, Occasional Papers, LVI, April 2007 - The New Science of Politics. An Introduction, Chicago 1952; dt.: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, hg. v. Peter J. Opitz, München 2004 - Order and History, 5 Bde., Baton Rouge 1956−1987; dt.: Ordnung und Geschichte, 10 Bde., hg. v. Peter J. Opitz u. Dietmar Herz, München 2001−2005 - Rasse und Staat, Tübingen 1933.
Ausgaben: The Collected Works of Eric Voegelin, London/Columbia, 1997−2009.
Literatur: Opitz, Peter J., 2002: Vom „System der Staatslehre“ zur „Philosophie der Politik und Geschichte“: Zur Entstehungsgeschichte von Eric Voegelins Order and History, in: Voegelin, Ordnung und Geschichte, München 2002, Bd. 1, S. 225−286 - Henkel, Michael, 1998: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg - Sandoz, Ellis, 1981: Voegelinian Revolution. A Biographical Introduction, Baton Rouge/London.
© Peter J. Opitz
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