I. Einleitung
Wenn der Titel eines Vortrages lautet, "Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt", dann ist Vorsicht geboten. Dies gilt vor allem dann, wenn derjenige, der den Vortrag hält, zumindest prätendiert, ein Wissenschaftler zu sein. Denn man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß auf dem Gebiete der politischen Wissenschaften im besonderen und der Sozialwissenschaften im allgemeinen Voraussagen betreffend zukünftige Ereignisse nicht in der Weise möglich sind, wie sie die Naturwissenschaften in bezug auf spezifische Naturvorgänge machen. Man hat es versucht, und ich darf vielleicht einleitend an Oswald Spengler erinnern, der in seinem Untergang des Abendlandes ein Muster von Zivilisationszyklen aufgestellt hat, das auf alle Zivilisationen anwendbar sein soll – also auch auf unsere. Anhand eines solchen Musters konnte Spengler nun feststellen, an welchem Ablaufspunkt des inneren Zyklus wir uns befinden und was uns bevorsteht. Doch das Unternehmen Spenglers mußte scheitern und zwar deshalb, weil dabei ein sehr wichtiger Faktor vernachlässigt wurde: das Problem der Freiheit. Nun hat Spengler Nachfolger gefunden, die etwas vorsichtiger waren, vor allem Arnold Toynbee. Auch er stellte Muster von Zivilisationszyklen auf, war aber vorsichtiger in seinen Voraussagen darüber, was sich möglicherweise in der westlichen Welt noch ereignen könnte. Denn Toynbee stellte den Faktor der Freiheit in Rechnung und sagte: Man kann nicht wissen, was die Menschen in einer bestimmten Situation tun und wie sie reagieren werden. In einem Vortrag, den er kürzlich in München hielt, hob Toynbee gerade diesen Punkt besonders stark hervor. Das Spenglersche Muster war ferner auch deshalb unzureichend, weil Spengler diese Kulturen als in sich geschlossene Organismen auffaßte. Nun sind Gesellschaften aber keine Organismen. Um seine Organismusvorstellung aufrechterhalten zu können, mußte Spengler eine ganze Reihe sehr wichtiger Phänomene, die nicht in das Muster hineinpaßten, weglassen. Diese wurden dann erst von Toynbee wieder hineingebracht. Vor allem mußte Spengler auf eine Betrachtung und Berücksichtigung der Weltreligionen verzichten, deren Ablauf sich außerhalb der Zivilisationszyklen vollzieht und die eines der Phänomene sind, die nicht in die Zyklustheorie passen.
Ich habe an diese Dinge erinnert, um vor voreiligen Voraussagen zu warnen. Die Situation ist viel zu kompliziert, um auch nur Voraussagen über jene Abläufe zu machen, von denen man mit einiger Sicherheit annehmen kann, daß sie auch weiterhin in die Zukunft so ablaufen werden. Außerdem gibt es aber diesen Faktor der Freiheit, der selbst sichere Abläufe immer wieder durchbrechen und Überraschungen bringen kann. Wenn man also schon über die Zukunft spricht, so muß man sich klar darüber sein, was man damit meint. Im folgenden soll unter Zukunft der Versuch einer Extrapolation von Faktoren verstanden werden, die in der Gegenwart empirisch feststellbar sind. Eine Gegenwartssituation historischer Art hat eine historische Struktur, so daß im wesentlichen die Feststellung der Gegenwartsstrukturen, die mit irgendeiner Wirksamkeit in die Zukunft weiterspielen, eine Feststellung der Vergangenheitsfaktoren ist, die im gegenwärtigen Augenblick wirksam sind und noch in die Zukunft hinein weiterlaufen. Insofern gewisse Faktoren als Meßdinge in dieser Gegenwartssituation vorhanden sind, können sie als in die Zukunft weiterlaufend verstanden werden. Wenn man auch nicht mit Gewißheit etwas über den Ausgang der Sache sagen kann, so können wenigstens die Faktoren festgestellt werden – zumindest die Herausforderungen im Toynbeeschen Sinne –, auf die Antworten zu erfolgen haben, wie immer diese dann auch ausfallen mögen.
Darüber hinaus müssen nun die Kriterien festgestellt werden, nach denen wir auswählen. Was wählen wir uns eigentlich in dieser Gegenwart aus? Worüber wollen wir die Zukunft wissen? Gegenstand der Aussagen soll das sein, was man technisch die "societas perfecta" nennt: die in sich – das heißt ihrem Wesen nach – vollkommene Gesellschaft. Eine solche Gesellschaftsordnung muß zwei Bedingungen erfüllen, unter denen sie zu betrachten ist: Sie muß erstens lebensfähig und zweitens geistig richtig geordnet sein. Daraus ergibt sich nun eine Einteilung der ganzen Problematik: Was ist an unserer Gesellschaft hinsichtlich der Lebensfähigkeit vorhanden? Wie sieht sie unter diesem Gesichtspunkt aus? Das ist der Teil, den man gewöhnlich den politischen Teil nennt, wobei das Politische im engeren Sinne, die Machtstruktur, nur ein kleines Problem ist. Wie sich gleich zeigen wird, handelt es sich bei der Frage der Lebensfähigkeit um mehr als nur um politische Macht. Das zweite Element ist die richtige geistige Ordnung; sie wird dann den zweiten Teil dieses Vortrages bestimmen.
II. Lebensfähige Ordnung
Ich gehe nun zunächst auf die Frage nach der lebensfähigen Ordnung ein. Unter welchem Gesichtspunkt ist heute die westliche Ordnung lebensfähig? Was ist überhaupt unter modernen Bedingungen für eine lebensfähige Ordnung erforderlich? Die Bedingungen, unter denen wir leben und unter denen eine Ordnung als lebensfähig anzusehen ist, sind dadurch gegeben, daß wir im "Zeitalter der Industriegesellschaft" leben. Unter "Industriegesellschaft" soll dabei jene Art von Gesellschaft verstanden sein, in der die Produktivität und die Wirtschaftsversorgung durch die moderne Technologie aufgrund der modernen Naturwissenschaft bestimmt ist. Sollen Gesellschaften unter den Bedingungen der modernen Wissenschaft, der modernen Technik existieren, dann müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die man nach einer Reihe von Punkten aufgliedern kann. Das will ich nun kurz tun, ohne damit etwas Neues zu sagen; doch es ist gut, die Sache in Ordnung zu behalten.
Eine solche Gesellschaft muß – erstens – über ein sehr umfangreiches Territorium verfügen; sie kann nicht ein Kleinstaat sein. Es müssen Territorien der Größenordnung von ganz Europa sein, der Größenordnung des Russischen Reiches, der Vereinigten Staaten von Amerika oder von ganz Lateinamerika, von China oder von Indien. Ein solches Territorium ist nötig, weil in einer Industriegesellschaft ein gewisses Minimum an Bevölkerung vorhanden sein muß, einerseits um den Industrieapparat in Gang zu halten, andererseits als Markt, auf dem die Produkte abgesetzt werden können. Also ein gewisses Minimum an Bevölkerung ist erforderlich. Bevölkerungsgrößenordnungen wie die 175 Millionen US-Amerikaner, die etwa 300 Millionen Europäer, die etwa 200 Millionen Russen, die 600 Millionen Chinesen und dergleichen mehr. Um diese Industriegesellschaft in Betrieb zu halten und den Apparat mit Stoffen zu versorgen, bedarf es der Rohmaterialien – entweder auf dem Territorium dieser Gesellschaft selbst oder auf Territorien, die durch diese Gesellschaft kontrolliert werden und die mit ihnen befreundet sind. Ferner bedarf es eines gewissen Maßes an Bildung – zunächst im technischen Sinne –, um den Industrieapparat in Gang zu halten. Das heißt, die Leute müssen lesen und schreiben können; sie müssen fähig sein, gelernte Arbeit zu verrichten; sie müssen fähig sein, Ingenieure zu werden, usw. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann ergibt sich ein Industrie- und Machtpotential, wie es zum Überleben einer Gesellschaft unter modernen Bedingungen – und inmitten anderer Gesellschaften solcher Größenordnung – erforderlich ist. Gäbe es nicht gleichzeitig rivalisierende und einander feindliche Gesellschaften in sogenannter "friedlicher Koexistenz", so wäre eine solche Größenordnung nicht unbedingt erforderlich; dann könnte man auch in kleineren Gesellschaften leben und auf die Vorzüge der die große Marktwirtschaft erfordernden Industriegesellschaft verzichten.
Wie groß eine solche Gesellschaft zu sein hat, ist insofern eine offene Frage, als die optimale Größe mit dem Stand der Technik variiert. Das heißt: Sind die technischen Prozesse dergestalt, daß die gegebenen technischen Möglichkeiten nur dann optimal ausgenützt werden können, wenn zum Beispiel ein Markt von der Größe von 200 Millionen Menschen vorhanden ist, dann benötigt eine Gesellschaft eben optimal 200 Millionen Menschen. Das etwa ist heute der Stand der Technik; in zwanzig, dreißig Jahren mag er sich so verändert haben, daß zur optimalen Größe einer Gesellschaft, zur vollständigen Ausnützung des Industrieapparates 500 Millionen Menschen erforderlich sind. Hier haben wir einen variablen Faktor, der für die Zukunft bestimmend sein könnte, über den wir heute aber noch nichts wissen können. Doch man muß die Frage immer im Auge behalten, ob zum Beispiel Gesellschaften von der Größenordnung der Sowjetunion mit derzeit 210 Millionen Menschen oder der Vereinigten Staaten mit derzeit 175 Millionen in zwanzig Jahren nicht zu klein sein werden, um optimale Industriegesellschaften zu bilden; ob sich in zwanzig Jahren die optimale Größe mit dem Stand der Technik nicht so verschoben hat, daß Gesellschaften von der Größenordnung Chinas das Macht- und Industriepotential am besten ausnützen können. In diesem Falle wären Föderationen zwischen Osten und Westen notwendig, um einer chinesischen optimalen Gesellschaft überhaupt die Waage halten zu können. Dieser variable Faktor, der für die Zukunft bestimmend sein könnte, muß immer im Auge behalten werden. Alles, was wir heute über Angemessenheit der Größenordnung einer Industriegesellschaft sagen, steht immer unter der stillschweigenden Annahme, daß der Stand der Technik ungefähr so bleibt, wie er heute ist und sich nicht radikal so verändert, daß ganz andere Größenordnungen der Marktverhältnisse erforderlich sind.
Das also wären die Bedingungen unter dem Gesichtspunkt der industriellen Entwicklung, die zur Schaffung einer "societas perfecta" als lebensfähiges Industrie- und Machtgebilde erfüllt werden müssen. Die Einsicht dafür ist allmählich gewachsen; ich darf auf einige Stufen dieser wachsenden Einsicht hinweisen.
Im frühen 19. Jahrhundert wurde zum ersten Mal klar, daß die Nationalstaaten als Einheiten zu klein sind; damals allerdings noch nicht unter dem Gesichtspunkt der Industriegesellschaft – in dieser Hinsicht wären sie noch groß genug gewesen –, sondern unter dem Gesichtspunkt der Machtrivalität mit dem Osten. Die berühmte Bemerkung von Napoleon, daß es nur zwei Nationen in der Welt gebe, Rußland und den Okzident, stammt aus dem Jahre 1802. Seine spätere Politik, die sich vor allem gegen Rußland richtete, intendierte ein westeuropäisches, okzidentales Machtgebilde, das machtmäßig – das heißt an Territorium und Bevölkerung – dem sich ausdehnenden Rußland der damaligen Zeit gewachsen gewesen wäre. Im Verlaufe des Ersten und Zweiten Weltkrieges ist diese Tatsache ganz offenbar geworden. Nun aber wurde sie verschärft durch das Eintreten der Industriegesellschaft als Faktor, durch eine Industrieentwicklung technischer Art, in der die Nationalstaaten zu klein geworden waren, um die Möglichkeiten der Technik optimal für den inneren Markt zu nutzen. Bitte beachten Sie, was ich zuvor gesagt habe: Vor 40 Jahren noch – also vor relativ kurzer Zeit – waren Nationalstaaten wie das damalige Deutschland, Frankreich oder England für die optimale Ausnützung der zu dieser Zeit vorhandenen Technik noch groß genug. Heute sind sie es nicht mehr, und es gibt absolut keinen Grund zu der Annahme, daß sich in vierzig Jahren die Situation nicht noch weiter verschoben haben wird und auch Gesellschaften der Größenordnung Europas oder der Vereinigten Staaten für den Stand, den die Technik dann erreicht haben wird, zu klein geworden sind.
Zu klein geworden sind jedoch nicht nur die europäischen Nationalstaaten, zu klein geworden ist – wie sich im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges herausgestellt hat – auch Europa. Daher laufen seitdem auf allen Stufen, auf denen organisiert werden kann, die Bemühungen um eine größere westliche Organisation. Angesichts noch immer bestehender nationaler Widerstände geschieht dies in Form verschiedener Wirtschaftsgemeinschaften – der Montanunion usw. Dem entspricht auf der militärischen Ebene die NATO, weil – wie man gesehen hatte – Europa selbst zu klein ist und in einen größeren westlichen Zusammenhang eingegliedert werden muß, der auch Amerika umfaßt. Das klingt nun so, als ob das lediglich vom europäischen Standpunkt her so gesehen würde; es gilt jedoch auch aus amerikanischer Sicht. Die Interventionen der USA im Ersten und Zweiten Weltkrieg geschahen nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern hatten ihren sehr soliden politischen Grund in der Einsicht, daß ein Westeuropa, das unter einem antidemokratischen, sozusagen dem Westen feindlichen, Regime steht – sei dieses nationalsozialistischer oder kommunistischer Natur – für die Vereinigten Staaten politisch untragbar ist; es würde zu einer Isolation der Vereinigten Staaten führen, die diese machtmäßig nicht aushalten könnten. Um die Position der Vereinigten Staaten zu halten, muß Europa westlich sein und sich im Bündnis mit den Vereinigten Staaten befinden. Auch Amerika ist in diesem politischen Sinne inzwischen zu klein geworden. Schon die Vereinigten Staaten sind zu klein, um selbständig zu operieren; sie brauchen das europäische "Glacis", um militärisch, wirtschaftlich, bevölkerungsmäßig an Industrie- und Machtpotential mit dabei zu sein. Denn wäre dieses "Glacis", das ein sehr ergiebiges Machtpotential darstellt, zum Beispiel von der Sowjetunion besetzt, dann würde sich eine Machtverlagerung ergeben, die für die Vereinigten Staaten kaum erträglich wäre. Sie würde dort zu erheblichen Verschiebungen der Innen- und Außenpolitik führen, möglicherweise sogar zu kriegerischen Situationen. Also nicht nur Europa, auch Amerika ist zu klein geworden; und weil beide für sich gegenüber territorialen Kolossalgebilden wie der Sowjetunion oder China zu klein sind, gibt es heute auf dieser Stufe der Lebens- und Überlebensfrage, der Lebensfähigkeit einer solchen "societas perfecta", so etwas wie ein westliches Problem im allgemeinen.
Das heißt, es ist nicht ein einzeln nationalstaatliches, noch ein europäisch-föderatives Problem, sondern ein Problem, das auch die Vereinigten Staaten mit umfaßt – eben ein Problem der westlichen Welt. Hier ist nun ein Machtblock vorhanden, der – vorausgesetzt, er hält zusammen – von der Größenordnung her anderen Machtblöcken, die sich gegenwärtig abzuzeichnen beginnen, wie etwa der chinesische Machtblock, die Waage halten kann. Machtblöcke dieser Größe sind erforderlich, und diesen westlichen Machtblock habe ich im Auge, wenn ich allgemein vom "Westen" spreche, der eine Zukunft hat oder nicht, und welche Zukunft er hat usw.
Darüber hinaus aber gibt es jetzt noch ein weiteres Problem, das durch die Entwicklung der Militärtechnik in den letzten Jahrzehnten entstanden ist – gemeint ist die AtomwaffenProblematik. Denn im Falle eines Atomkriegs werden die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, die im Besitz von Atombomben sind, sehr erheblich leiden, vielleicht in einem solchem Maße, daß kaum noch eine Kontinuität bestehen wird zwischen dem, was es vorher gegeben hat und dem, was es nachher gibt. Es handelt sich um eine selbstmörderische Militärtechnik, die nicht mehr angewendet werden darf. Im Schatten dieser neuen militärisch-technischen Mittel – die nicht angewendet werden, sondern nur noch der Abschreckung dienen, um die Balance zu halten, bis weitere Entwicklungen stattgefunden haben –, vollzieht sich etwas anderes, das auch schon vorher angelegt war: die Bildung einer Weltgesellschaft über die sich abzeichnenden Zivilisationsgemeinschaften hinweg, eine Weltgesellschaft, bestehend aus solchen großen Machtblöcken, die sich aber vertragen müssen, weil nuklear ausgetragene Konflikte zur Vernichtung führen würden. Diese Gesellschaft ist nun eine Weltgesellschaft, weil sie einen bestimmten geistigen Gehalt hat, über den ich heute nicht allzu viel sagen will, weil mein Gegenstand die Problematik des Westens ist und nicht die der Weltgesellschaft. Sie hat eine geistige Einheit insofern, als das, was diese verschiedenen Zivilisationen zu einer Gesellschaft zusammenschweißt und sie in einer gemeinsamen Problematik verbindet, geistige Haltungen und Techniken sind, die ihr Zentrum in Europa und in Amerika, also in der westlichen Welt haben. Die gesamte Welt außerhalb des Westens wird heute verwestlicht, insofern die Standards des Lebens, die sich im Westen – insbesondere in den Vereinigten Staaten – entwickelt haben, Paradigmata, Vorbilder für alle geworden sind. In einer so angenehmen materiellen Lebensausstattung, wie die Amerikaner sie besitzen, wollen alle leben – ein verständliches materielles Begehren, das erfüllt werden kann, wenn man die Industriegesellschaft einführt.
Es hat somit eine Weltrevolution stattgefunden, mit dem Revolutionszentrum im Westen – in Europa und den Vereinigten Staaten. Es ist eine Revolution, die dahin zielt, die ganze übrige Welt auf einen Zivilisationsstand zu heben, der – im materiellen Sinne – dem des Westens entspricht. Es scheint eine Weltbewegung zu sein, die nicht mehr abzustoppen ist und in der die verschiedenen Zivilisationsgesellschaften ihre Selbständigkeit und Selbstorganisation bewahren wollen. Diese Weltrevolution drückt sich auch politisch aus, insofern der Kolonialimperialismus des Westens am Ende ist – auch dort, wo das Ende noch nicht zugegeben wird – und die anderen Zivilisationsgesellschaften, die indische, die chinesische, die islamische, die afrikanischen und die lateinamerikanischen Völker, sich unter eigener Regie als Industriegesellschaften organisieren wollen, die einen ähnlichen Lebensstandard ermöglichen wie denjenigen der Vereinigten Staaten und Westeuropas heute.
Wir befinden uns also auf dieser materiellen Ebene in einer Weltrevolution mit dem europäisch-westlichen Zentrum. Ich betone dies deshalb so stark, weil man noch immer – unter dem Eindruck der Thesen Spenglers und des gelegentlichen Pessimismus Toynbees – von einem Untergang des Westens, von einem Untergang des Abendlandes spricht. Das hat seine guten Gründe, und ich darf kurz darauf eingehen, weil wir nun zur geistigen Problematik übergehen müssen.
Spenglers Untergang des Abendlandes erzielte seinen enormen Publikumserfolg nach dem Ersten Weltkrieg, als jedermann klar war, daß etwas mit Europa nicht in Ordnung ist und daß da irgend etwas untergeht, bevor etwas Neues aufgebaut werden kann. Doch man darf nicht übersehen, daß Spengler dies nicht nach dem Ersten Weltkrieg entdeckt hat, sondern daß er sein Werk vor dem Ersten Weltkrieg schrieb, als die Katastrophe dieses Krieges noch nicht in Sicht war. Der erste Band erschien 1917, zu einer Zeit, als nach Ansicht Spenglers – wie er es im Vorwort zu der ersten Auflage ausdrückt – Deutschland siegreich aus diesem Krieg hervorgehen würde. Es ist also – in materiellem Sinn – in einer optimistischen Situation geschrieben und in diesem Sinne durchaus nicht pessimistisch. Wenn Spengler trotzdem vom "Untergang des Abendlandes" sprach, so meinte er damit jene Untergangssymptome, die schon in der viktorianischen und wilhelminischen Periode sichtbar waren – nämlich Untergangssymptome geistiger Art. Und über diese Problematik müssen wir jetzt reden.
Doch zuvor muß noch einmal wiederholt werden: Die Tatsache, daß gewisse Formen absterben und Neues heraufkommt, sollte über eines nicht hinwegtäuschen: Wenn es zu irgendeiner Zeit ein siegreiches Vordringen einer Zivilisationsgesellschaft gegeben hat, so ist es das gegenwärtige Zeitalter, in dem ein in Europa und Amerika entwickelter Lebens- und Geistesstil zum revolutionären Ferment der ganzen Welt geworden ist. Die ganze Welt wird heute in diesem Sinne europäisiert und amerikanisiert, weil – wenngleich mit Haßgefühlen vermengt – eben dieser Lebensstil als der verbindliche Standard für die ganze Menschheit angesehen wird. Mehr Erfolg, als das Revolutionszentrum der ganzen Menschheit zu sein, kann man nicht haben.
Von "Untergang" in diesem Sinne ist also keine Rede. Wohl aber wäre es möglich, daß die andere Seite der Spenglerschen These, die geistige, mit zu beachten wäre: daß vielleicht im Geistigen ein "Untergang" stattfindet und daß die Ausbreitung des europäisch-amerikanischen Geistes, bzw. jenes Teils des Geistes, der sich über die ganze Erde ausbreitet, alle anderen Zivilisationen in den westlichen Untergang mit hineinzieht. Unter diesem Gesichtspunkt kann gerade die materielle Ausbreitung der Erfolg in diesem Sinne – die "success story" – vielleicht eines der gewaltigsten Untergangsphänomene sein.
Um auf dieser zweiten – geistigen – Ebene ein Urteil zu fällen, müssen wir jetzt auf die Frage der geistigen Ordnung eingehen. Natürlich sind auch hier wieder nur große Überblicke möglich. Denn über das Problem der geistigen Ordnung im Westen und ihrer möglichen Entwicklung könnte man ein ganzes Buch schreiben.
III. Geistige Ordnung
Das Problem der geistigen Ordnung ist etwas, worüber man präzise sprechen kann und worüber man nicht – wie es häufig geschieht – herumschwätzen muß. Die präzise Kategorisierung ist die seit den Anfängen der westlichen Zivilisation vorgegebene: daß es in der Ordnung zu unterscheiden gilt zwischen der weltlichen und der geistlichen Gewalt. Die Unterscheidung dieser zwei Ordnungsstände wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts von Papst Gelasius vorgenommen; sie wird das "Gelasianische Prinzip" genannt. Ihm zufolge steht der Mensch innerhalb der kaiserlich geordneten Welt und in der päpstlich geordneten Kirche; für die damalige Welt war die weltliche Ordnung das Kaisertum, für die geistliche Ordnung die Kirche. Die Repräsentanten der zwei Ordnungsstände, Kaiser und Papst, halten sich gegenseitig die Waage; denn jeder ist in seinem Bezirk autonom und hat in seinem Bezirk über den anderen Autorität. Diese wechselseitige Beschränkung, relative Autonomie und Kooperation in der Ordnung, das ist das Prinzip der Gelasianischen Ordnung; sie hat durch das ganze Mittelalter hindurch den Westen bestimmt, bis sie in der Reformationszeit zusammengebrochen ist – worüber gleich noch zu reden sein wird. Dieses Grundprinzip der westlichen Ordnungskonzeption zieht sich durch die westliche Geschichte, auch wenn die Träger, die Repräsentanten der Ordnung, wechseln.
Ich darf vielleicht kurz die Phasen aufzählen, durch welche sich diese Zweiteilung von weltlicher und geistlicher Gewalt hindurchzieht: Die erste Zweiteilung ist die eben genannte Gelasianische – die von Kaiser und Papst. Doch schon im Hochmittelalter stößt man im Denken Dantes – unter dem Einfluß der averroeistischen Philosophie der Zeit – auf eine Schicht, die gar nicht dem entspricht, was man dann später in der Divina Comedia findet. In seinem Werk De Monarchia betrachtet Dante einen Weltmonarchen als Träger der weltlichen Gewalt, als Träger der geistlichen Gewalt aber nicht den Papst, sondern einen Philosophen in der Art, wie er ihn in diesem Werk zeichnet. Der einzige Philosoph aber, der in De Monarchia beim Namen genannt wird, ist der arabische Philosoph Averroes. Ohne auf Details eingehen zu können, läßt sich sagen, daß an die Stelle des Weltkaisertums eine Art averroeistischer Intellektualismus tritt.
Nach der Reformation stellte sich, gleichzeitig mit der Nationalstaatenbildung, das neue Problem: Einen Nationalstaat so zu organisieren, daß einerseits die Ordnung im Inneren, die Königsgewalt, absolut wird – an die Stelle des Kaisers oder des danteischen Weltkaisers tritt nun der nationale König – und andererseits, um den Kirchenstreit zu beseitigen, ein adogmatischer, mystischer Philosoph. Das sind die zwei Träger, die man gegen Ende des 16. Jahrhunderts in dem großen Werk von Jean Bodin Six livres de la République findet. In diesen Sechs Büchern von der Republik entwickelt Bodin das Konzept von zwei Ordnungsträgern, eben den nationalen König im souveränen Nationalstaat, der die Rechtsordnung des Nationalstaates bestimmt, und als seinen Berater den adogmatischen Philosophen. Dagegen besitzen die Kirchen, die gegenseitig ständig im Kriege verwickelt sind, keinen öffentlichen Status. Im 16. Jahrhundert gab es in Frankreich acht Bürgerkriege aus religiösen Gründen; sie waren zu überwinden – darum der adogmatische Philosoph, der Mystiker, als Träger der geistigen Ordnung.
Im 19. Jahrhundert beginnt dann eine dritte Phase: An die Stelle von Kaiser, Weltmonarch und nationalem König tritt in der Ordnungskonzeption von Auguste Comte der industrielle Manager; an die Stelle von Papst, Philosoph und akonfessionellem Mystiker der positivistische Intellektuelle. Hier gibt es somit jetzt zwei neue Typen: eine Art Technokratie, in der die weltliche Gewalt – die Verwaltung – von den Leitern der Industriegesellschaft übernommen wird; während die geistige Ordnung von den positivistischen Intellektuellen, also von einem von Comte entwickelten Ideologentypus, repräsentiert wird.
Diese Entwicklung ist aus zwei Gründen interessant: Erstens sollte sie zeigen, daß sich an der Ordnungsproblematik als solcher – also an der Frage weltlicher und geistlicher Ordnung – seit den Anfängen der westlichen Zivilisation nichts geändert hat. Das Problem besteht heute so wie im 5. Jahrhundert; vierzehnhundert Jahre später sind wir noch immer mit dem Problem der weltlichen und der geistlichen Ordnung befaßt. Die Frage ist nur: Wie haben die geistliche und die weltliche Ordnung auszusehen, und wer sind ihre Repräsentanten? Ein zweiter Grund, warum diese Reihe interessant ist, ist der, daß sich auf der geistigen Seite an die Stelle des Papstes zuerst der Philosoph schiebt; an die Stelle des Philosophen tritt später der akonfessionelle Mystiker und schließlich bei Comte der positivistische Intellektuelle, der Ideologe. Hier ist also auf der geistigen Seite etwas vorgegangen, was über die ursprüngliche Gelasianische Konzeption hinausgeht. Ganz offenbar gibt es hier eine Vorstellung von weltlicher Ordnung, die einen Repräsentanten erfordert – jetzt nicht von weltlicher Ordnung im Sinne der Machtordnung, sondern einer geistigen Ordnung der Welt –, die durch die Kirche, die Offenbarung, die Repräsentanten der Kirche nicht erschöpft wird. Sagen wir also vorläufig – ich werde die Sache noch ein bißchen auszuführen haben – : Der Philosoph tritt als eine dritte Autoritätsfigur auf.
Und damit haben wir nun ein Dreieck von Autoritäten, das ebenso alt ist wie die Gelasianische Zweiteilung, die zusammenbricht, wenn an die Stelle des Papstes Träger von innerweltlicher, philosophischer Autorität treten. Diese Dreiteilung findet sich bei Justinian, sie liegt seinem großen Gesetzgebungswerk zugrunde und ist in der Constitutio imperatoria majestas durchgeführt, die er dem Gesetzgebungswerk, insbesondere den Institutionen, voranstellt. Dort weist er dem Herrscher drei große Funktionen zu: Dieser muß erstens der Imperator sein – der Kaiser, der die Armeen führt, der Feldherr, der General. Die Machtordnung liegt in der Hand des Kaisers, und diese Machtordnung ist militärisch fundiert – darum der Imperator, der General. Die zweite Funktion stammt aus der religiösen Tradition Roms. In Rom gab es einen Pontifex Maximus, und die Kaiser hatten die Funktion des Pontifex Maximus übernommen und bis in die christliche Zeit beibehalten. Der Kaiser ist also gleichzeitig so etwas wie ein Pontifex Maximus und in dieser Eigenschaft ein Verteidiger des Glaubens in der Form, die dieser nach dem ersten Konzil angenommen hatte. Darum wird zum Inhalt der Gesetzgebung des Justinian auch der gesamte Dogmenbestand, insbesondere das Dogma des Nicaeanischen Konzils, gemacht. Das Nicaeanische Konzil ist im byzantinischen Reich nicht deshalb verbindlich, weil es Kirchenbeschluß ist, sondern weil es gleichzeitig zum Inhalt eines Gesetzgebungsaktes von seiten des Kaisers gemacht wurde. Die Dogmatik der Kirche wird als Kaiserstatut, als Kaiserkonstitution, mitübernommen, und in dieser Beziehung ist der Kaiser nun der Verteidiger des Glaubens. In der dritten Funktion schließlich, die ebenfalls in der Constitutio imperatoria majestas angesprochen wird, ist der Kaiser der "religiosissimus iuris", das heißt, der Mann, der auf das tiefste loyal in dem Versehen der Gerechtigkeitspflichten ist.
In der Gerechtigkeit – das Hauptproblem des ganzen Kodifikationswerkes des Justinian – steckt nun aber eben das philosophische Problem. Denn es handelt sich nicht um positives Recht, so wie unsere heutigen Positiv-Juristen das verstehen, sondern um ein philosophisch fundiertes Recht. Die philosophischen Fundierungen gehen zurück auf die Stoa und Aristoteles. Sie sind im Codex und den Digesten nur in wenigen Sätzen angedeutet, kommen dann aber in den Kommentatoren heraus, vor allem bei den Kommentatoren der Renaissance, zum Beispiel bei Jacques de Cujas im 16. Jahrhundert. Der Inhalt des römischen Rechtes wird auf die aristotelische Ethik zurückgeführt und seine philosophische Fundierung damit in der aristotelischen Philosophie gesucht. Der Kaiser muß also, um gerecht zu sein, nicht nur ein Produzent von positivem Recht sein – das ja auch sehr ungerecht sein könnte –, sondern muß in dieses positive Recht einen Gerechtigkeitsgehalt einarbeiten, der durch das Verstehen einer gerechten Ordnung unter Menschen gegeben wird – jetzt als Weltordnung von Menschen verstanden. Diese Weltordnung von Menschen wird durch die Analysen der Vernunft geliefert, die das Werk der Philosophen sind.
Damit haben wir die drei Autoritätsquellen für die Ordnung, die im Mittelalter verbindlich gewesen sind und allmählich immer deutlicher herauskommen: die imperatorische, rein machtmäßige; die innerweltlich vernünftige durch die Philosophie; und das durch die Offenbarung gegebene Verständnis der Beziehung des Menschen zu Gott. Man kann daher gewissermaßen von einem Gesetz der westlichen Ordnung sprechen: Wenn diese drei Autoritätsquellen ihre relative Autonomie behalten, wenn sie sich gegenseitig in Schach halten und nicht die eine die andere überwältigt, dann herrscht Ordnung. Saugt die eine die andere auf oder übernimmt eine alle drei Funktionen, dann herrscht Unordnung. Unordnung ist zum Beispiel dann vorhanden, wenn – wie in einem totalitären Staat – eine Ideologensekte herrscht und der Inhaber der "imperatoria majestas" im Justinianischen Sinn, der Machthaber, der die Militär- und Staatsmacht in der Hand hat, gleichzeitig der Mann ist, der unter dem Titel der Ideologie auch die geistige Leitung in die Hand nimmt und dort das versieht, was sonst durch Kirche und Philosophie versehen würde. Liegen also die drei Funktionen Macht, Philosophie, Offenbarung in einer Hand, so ist das Maximum der Unordnung gegeben.
Dabei gibt es natürlich auch Zwischenformen. So gibt es heute im Westen Intellektuellen-Bewegungen, die nicht die Macht in die Hand nehmen. Zum Beispiel ist eine Bewegung wie die von Comte mit ihrem Positivismus besonders in den Sozialwissenschaften in Amerika so stark, daß sie tatsächlich in diesen Gebieten die Universitäten beherrscht; aber sie verfügt Gott sei Dank nicht über die Staatsmacht. Dennoch liegt hier eine Fusion von zwei Funktionen vor. Die positivistische Ideologie, wie sie in den amerikanischen Sozialwissenschaften massenhaft vertreten wird – es gibt natürlich Ausnahmen –, ist eine Fusion von Philosophie und Offenbarung, die eine komplette Versorgung mit geistigem Lebensgehalt, mit Rezepten für Gesellschaft, Organisation, usw., vornimmt. Dabei werden sowohl die Philosophie wie die Offenbarung durch die Ideologie ersetzt; in der Ideologie gibt es demnach eine Fusion zweier Autoritätsquellen. Wenn sie an die Macht kommt und gleichzeitig auch den Staatsapparat in der Hand hat, so kommt es zur Fusion aller drei Autoritätsquellen. Hier haben wir so etwas wie objektive Kriterien für das, was Ordnung ist: nämlich wenn diese drei Autoritäten sich die Waage halten und jede in ihrer relativen Autonomie von der anderen anerkannt wird. Unordnung besteht darin, wenn diese relative Autonomie und die Balance von irgendeiner Seite gestört wird.
Ich darf vielleicht daran erinnern, daß einer der bedeutendsten Köpfe des 19. Jahrhunderts, der französische Denker Ernest Renan, einmal definiert hat: Europa hat drei Wurzeln (und die europäische Ordnung hat damit auch eben diese drei Wurzeln): die römische Machtorganisation, die hellenische Philosophie, die jüdisch-christliche Religiosität. Das wäre in dieser etwas allgemeineren Form das, was ich hier spezifischer für die drei Autoritätsquellen Macht, Offenbarung und Vernunft ausgeführt habe. Man kann also sagen: Das ist die europäische Ordnung. Wo diese Ordnung weiterbesteht, da besteht sie; wo sie gestört wird, da wird sie gestört, und "Untergang" läßt sich somit sehr präzise als Zerstörung dieser Art von Ordnung definieren.
Damit stellen sich folgende Fragen: Warum kommt es eigentlich zu diesen Unordnungen? Warum funktionieren Philosophie, Christentum und Macht nicht in dieser wünschenswerten Balance, in der sie gehalten werden sollen? Die Ursache der Unordnung ist an einer Stelle zu suchen, wo man sie gewöhnlich nicht sucht: nämlich in der Struktur des Christentums. Erwarten Sie nun nicht eine wilde Attacke auf das Christentum – ganz im Gegenteil. Es handelt sich vielmehr darum festzustellen, was im Christentum geleistet wird und was nicht. Denn in der Sphäre, in der nichts geleistet wird – was kein Vorwurf ist, da dies ja nicht die Aufgabe des Christentums ist – kommt es zu den Unordnungen. Durch das Christentum wurde etwas erreicht, was die Philosophie der Antike nicht erreicht hat: eine klare Absetzung des transzendenten göttlichen Seins gegenüber der Welt. Göttliches Sein, Gottheit ist im Jenseits der Welt konzentriert. Das ist leicht hingesagt, hat aber ungeheuerliche Konsequenzen, wenn es akzeptiert wird. Es hat nämlich die vom Standpunkt der antiken Zivilisationen – und heute noch von dem der Volkskulturen und der asiatischen Zivilisationen – die phantastische Konsequenz, daß die ältere Vorstellung einer von Göttern durchwalteten Welt aufgelöst ist. Es gibt keine Götter mehr in der Welt; eine innerweltliche göttliche Ordnung ist verschwunden, wenn die Gottheit im Jenseits der Welt konzentriert ist.
Hat diese Einsicht – Gottheit ist das, was jenseits der Welt ist – aber erst einmal Fuß gefaßt, dann ist die Welt, die übrigbleibt, nicht mehr von göttlichen Kräften besetzt, vor denen man Achtung haben muß. Erst dann, wenn sie entgöttert ist, wird sie zum Feld, in dem der Mensch sich ohne Rücksichten auf irgend etwas betätigen kann; denn es gibt nun nichts mehr, worauf er Rücksichten zu nehmen hätte. Die gesamte spezifisch westliche Entwicklung – etwa der Wissenschaft – ist dadurch bedingt, daß erst die Welt durch das Christentum entgöttert worden ist. Die Entgötterung der Welt können Sie nun vom Standpunkt der Romantiker, die am Paganismus Gefallen finden – wie noch Hölderlin – als einen großen Jammer ansehen. Oder Sie können es vom Standpunkt des modernen Menschen – ich spreche gar nicht einmal vom Christen, sondern nur vom romantischen und modernen progressiven Menschen – als einen großen Vorzug ansehen: Man kann jetzt freimütig mit Naturkräften schalten, man kann sie erforschen, man braucht keine Tabus mehr zu beachten, man kann mit ihnen umgehen, man kann Macht über die Welt haben.
Dieses Machtbewußtsein ist das Machtbewußtsein des neuen Philosophieren, das im 17. Jahrhundert zum ersten Mal durch Bacon ausgesprochen worden ist: "Wissen ist Macht" über die Welt. Aber bevor Wissen Macht über die Welt wurde – das wird leider leicht vergessen –, mußte diese Welt erst von Kräften ausgeräumt werden, vor denen man Respekt haben muß. Das waren eben die göttlichen Kräfte. Diese Entgötterung der Welt durch das Christentum und die Schaffung einer göttlich leeren Welt ist die Voraussetzung der ganzen westlichen Existenz. Dies zu beachten ist deshalb besonders wichtig, weil wir heute – im Zeitalter der Romantik der Naturwissenschaft – ohne im historischen Kausalzusammenhang weiter zurückzugreifen, immer von der Annahme ausgehen, daß die moderne Welt durch die Naturwissenschaft geformt wird, und sich dann immer das große Rätselraten ergibt: Warum gibt es in Indien keine Naturwissenschaft? Warum gibt es in China keine Naturwissenschaft? Warum haben die Araber keine Naturwissenschaft entwickelt? Die Antwort darauf ist: Weil sie nicht radikale Christen gewesen sind. Hinter die Wissenschaft zurückgehen heißt also: die Frage der leeren Welt zu stellen, die entgöttert sein muß, um Wissenschaftsbetätigung überhaupt legitim zu machen.
In diese Welt als Leerstelle – das Christentum sagt nichts über diese Welt selber und ihre Struktur – ist durch einen Zufall das Römische Reich hineingeraten. Wir kommen nun auf etwas kompliziertere Dinge, die ich aber nicht umgehen kann, weil die ganze moderne Problematik durch sie bestimmt wird. Das Römische Reich hat es gut gefunden, durch seine imperatorischen Repräsentanten das Christentum als Staatsreligion zu akzeptieren. Das wird immer vom Römischen Reich her gesehen, das das Christentum akzeptiert hat – darüber wird allerdings leicht übersehen, daß dadurch das Christentum zu einer Gesellschaftsordnung in schon vorgegebenen Formen gekommen ist. Das heißt, man hatte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie eine Gesellschaft ausschauen soll, denn sie war ja in Form des Römischen Reiches schon da. Dafür, wie sie ausschaut, haben die Imperatoren gesorgt und nicht erst die Kirchenväter gefragt.
Die ganze Welt in ihrer gesellschaftlichen Organisation war durch den Prozeß des Römischen Reiches somit vorgegeben und nicht ein Objekt der Spekulation: Wie sollte man eigentlich wirklich die Welt einrichten? Eine solche Spekulation innerhalb des Christentums gibt es nicht; im Evangelium steht gar nichts darüber. Als Folge davon gibt es keine indigene christliche Theorie der gesellschaftlichen Ordnung. Dieser Punkt wird heute immer wieder übersehen, denn jeder redet von "christlichem Sozialismus", von "christlicher Demokratie", von christlichem Dies und Das. Doch im Evangelium steht kein Wort darüber, wie die Gesellschaft eingerichtet werden soll. Soweit das Evangelium in Betracht kommt, ist jede Gesellschaftsordnung, jede Staatsform kompatibel mit dem Christentum, soweit sie nicht gerade die Christen verfolgt; ob das eine Monarchie, eine Aristokratie oder eine Demokratie ist, ist ganz gleichgültig. Da das Christentum der Gesellschaft über die Weltordnung nichts zu sagen hat, gibt es in diesem Sinne keine christliche politische Theorie.
Ferner ist im Christentum – das alles ist auch noch jüdische Tradition – keine Philosophie enthalten. Ebenso wie das Römische Reich durch einen Zufall der Geschichte in das Christentum hineingeraten ist, ebenso geriet die Philosophie durch einen Zufall in das Christentum hinein. Denn mit der Allianz zwischen Christentum und Römischem Reich mußten nun die Autoritäten der Kirche natürlich etwas über das Zusammenleben von Christen in der Welt sagen; und da darüber nichts in den Evangelien steht, mußte das klassische Naturrecht rezipiert werden. Über das klassische Naturrecht hinaus wurde dann im Mittelalter durch die Dominikaner, speziell durch Albertus Magnus und durch Thomas von Aquin, der Gesamtbestand der klassischen Philosophie, insbesondere des Aristotelismus mitübernommen; durch Augustin war zuvor schon der Platonismus übernommen worden. Das alles sind Importe von außen. Es gibt also keine autochthone christliche Philosophie, sondern eine aus der klassischen Tradition übernommene Philosophie, die für christliche Zwecke adaptiert wurde.
Diese Situation müssen Sie sich nun aus zwei Gründen vor Augen führen: Erstens, um des Gegenbeispieles willen: Was passiert dort, wo diese akzidentiellen Rezeptionen, diese zufälligen Zusätze betreffend die Weltordnung nicht ins Christentum hineingeraten? Dafür haben wir nun einen Laboratoriumsfall – nämlich Rußland. In Rußland gibt es keine selbständige Entwicklung des Naturrechtes wie im Westen, keine Fortsetzung der klassischen Philosophie, keine Renaissance, keine Scholastik. Warum nicht? Negativ ausgedrückt: weil im Christentum als solchem gar kein Anlaß besteht, sich mit solchen Dingen zu befassen. Das passiert nur, wenn man durch Zufall in das Römische Reich hineingerät. Dieser Zufall aber ist für Rußland ausgeblieben, weil die russische Kirchensprache von Anfang an einheimische Kirchensprache gewesen ist. Und diese einheimische Kirchensprache war ein slawischer Dialekt – der makedonisch-bulgarische Dialekt –, der keine Literatur besaß, in der irgend etwas geschrieben war, was wert wäre, gelesen zu werden. In der lateinischen und der griechischen Kirche dagegen mußten die Kleriker als Liturgiesprache Lateinisch oder Griechisch lernen und hatten damit dann die Sprache, in der man Cicero, Vergil, Ovid, Platon und Aristoteles lesen konnte.
In der russischen Kirchenentwicklung gibt es nichts derartiges. Darum gibt es diese Sonderbarkeiten, daß in Rußland eine ganze Reihe von Ideologien – die zu dumm sind, daß sogar westliche Ideologen auf sie hereinfallen – einen wunderbaren Boden haben, weil ihnen nichts an intellektueller Disziplin, an Tradition entgegensteht, die sich über Jahrhunderte herausgebildet und erhalten hätte. In diesem intellektuellen Vakuum kann ein Mann wie Lenin, der an sich keineswegs dumm ist, diesen grauenhaften Stiefel zusammenschreiben, den man zum Beispiel in seinem Werk Materialismus und Empiriokritizismus findet – ungenießbarer Unsinn, den nur ein Russe schreiben kann, der keine philosophische Tradition hat, die ihm irgendwelche Disziplin oder Schranken auferlegt. Das ist ein kulturgeschichtliches Phänomen und hat gar nichts mit Kommunismus zu tun. Das ist ein Problem, vor dem jeder Russe steht: daß er sich in die Philosophie erst hineinarbeiten muß und daß philosophische Traditionen erst geschaffen werden müssen, weil sie in der russischen Kulturgeschichte durch diesen Zufall der bulgarisch-makedonischen Kirchensprache nicht vorhanden sind. Deshalb gibt es dort keine philosophische Entwicklung, vergleichbar mit der des Westens. Auch das ist wieder ein wunderbares Gegenbeispiel dafür, daß diese philosophische Entwicklung des Westens eben nicht christlich ist, sondern aus der Klassik kommt.
Das also sind die Ursachen der Unordnung. Hier ist eine vom Christentum freigelassene Leerstelle vorhanden, in die jetzt alles eindringen kann, was irgend jemandem gerade so durch den Kopf geht. Im Westen ist sie dadurch gehemmt, daß hier immerhin aus der klassischen Tradition die Philosophie schon vorhanden ist; in Rußland dagegen geschieht sie völlig ungehemmt bzw. wird erst dann gehemmt, wenn eine bestimmte Art von Ideologie die Staatsmacht erringt und nun andere Ideologien, die eventuell mit ihr in Wettbewerb treten könnten, unterdrücken kann.
Und nun ein paar Worte zur Beschreibung des Prozesses der Unordnung: Der Prozeß, in dem die Unordnung über diese Leerstelle eingetreten ist, sind die großen Phasen, die ich nur zu nennen brauche: Erstens die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts und die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit einer furchtbaren Diskreditierung der Kirche, beider Kirchen, geendet haben; sodann der Reichszerfall und das Wachstum der Nationalstaaten. Beides – Kirchenzerfall und Reichszerfall – hatten zur Folge, daß Papst und Kaiser, als die Repräsentanten der weltlichen und geistlichen Gewalt, eliminiert wurden. Der Papst wurde bei Gelegenheit des Westfälischen Friedens (1648) eliminiert. Obwohl dort eine ganze Reihe von Reorganisationen von Bistümern vorgenommen wurden, wurde zu den Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück kein Vertreter der Kurie zugelassen; und als die Kurie sich darüber beschwerte, daß über Kirchengüter ohne die Anwesenheit eines Vertreters der Kurie verfügt würde, wurde ihre Beschwerde nicht beantwortet. Auf diese etwas sang- und klanglose Weise verschwand der Papst aus dem Völkerrecht, in dem er bis dahin eine große Rolle gespielt hatte. Der Kaiser verschwand, wie Sie wissen, 1806. Nachdem Napoleon die Kaiserwürde 1804 angenommen hatte, fand der letzte Inhaber des römischen Kaisertums die Zeit für gekommen, dieses Kaisertum niederzulegen. Jeder kann jetzt Kaiser werden, ebenso wie in verschiedenen Ideologien im 19. Jahrhundert jeder ein Messias und Papst werden kann. Das Resultat dieser Diskreditierung ist die Trennung von Kirche und Staat und damit die Schaffung einer freireligiösen Sphäre, also die Reduktion der weltlichen Sphäre in der Politik auf eine Organisationssphäre, in der Kirchen nicht mehr mitzusprechen haben.
In ihren Folgen fast noch verhängnisvoller als diese erste, ist die zweite Trennung – nämlich die von Wissenschaft und Philosophie. Wir leben heute in einer Zeit der Dominanz der Naturwissenschaft und der Vorherrschaft der Ideologien. Philosophie als öffentlicher Faktor ist so gut wie nicht vorhanden. Das heißt, es gibt zwar Philosophen, aber kein Mensch kümmert sich um das, was sie sagen – manchmal zu Recht, aber manchmal auch zu Unrecht. Ein öffentlicher Faktor, der irgend jemanden beeinflussen würde, ist die Philosophie heute jedenfalls nicht. Naturwissenschaft – ja; Ideologie – auch; aber Philosophie – nein. Die öffentliche Sphäre ist von einer nicht mehr religiös bestimmten politischen Macht besetzt, von einer nicht mehr philosophisch bestimmten Naturwissenschafts- und Ideologiemacht. Zwei der Autoritätsquellen – die Offenbarung und die Philosophie – haben keinen öffentlichen Status mehr; das ist das Resultat. Wo diese Entwicklung zu ihrem Ende gekommen ist, haben Sie dann als Folge die Fusion der drei Autoritätsquellen in einer Hand – eben im ideologischen Regime der totalitären Reiche. Damit wäre also das Ende der europäischen Ordnung gegeben.
Damit stellt sich die Frage: Gibt es irgendwelche Aussichten, daß die Sache vielleicht doch anders verlaufen könnte? Ich will für diese drei Bereiche – den Machtbereich, den Kirchenbereich und den Philosophiebereich – kurz andeuten, was vorhanden ist. Und nachdem ich genau die Gefahr beschrieben habe, werden Sie vermutlich besser verstehen, welche enorme Arbeit bevorsteht, um die europäische und allgemein westliche Ordnung wieder in Gang zu bringen und nicht dieser Zerstörung durch die Ideologie zu erliegen.
Auf der Machtseite stellt sich die Frage: Wie organisiere ich weltlich eine Gesellschaft, so daß sie mit Christentum und Philosophie kompatibel ist, ohne aber die Problematik der Macht zu vernachlässigen? Dieses Unternehmen ist experimentell erfolgreich in Angriff genommen worden in dem, was man im angelsächsischen Kulturbereich "civil government" nennt. Es ist ein Regime, das sich von der Kirche getrennt hat, aber in seiner Regimepraxis die christliche Persönlichkeit anerkennt und sich so verhält, daß die Persönlichkeit geachtet und geschützt wird. Diese Art von Zivilregime, wenn sie dann gleichzeitig auch noch mit den Formen der Demokratie im institutionellen Sinne verbunden ist – also mit allgemeinem, freiem und gleichem Wahlrecht, mit regelmäßigem Wechsel der Regenten oder zumindest mit der Gelegenheit, sie durch Wahlakte zu wechseln, usw. – das ist das, was man heute "Demokratie" nennt. Aber es ist nur dann "Demokratie", wenn es eben Demokratie im Sinne des angelsächsischen verstandenen Regimes ist, das für Christen gültig ist. Ein solches Zivilregime ist nicht haltbar, wenn die Bevölkerung – als Wahlbevölkerung, die die Regierung bestimmen kann – mit nicht-christlichen Ideologien durchsetzt ist und die Regenten selber nicht mehr im christlichen Geiste regieren. Dabei ist durchaus nicht erforderlich, daß der betreffende Regent ein feuriges Kirchenmitglied ist; denn christlichen Geist kann man auch haben, ohne Kirchenmitglied zu sein. (Eisenhower ist, glaube ich, einige Wochen, bevor er zur Präsidentschaftswahl antrat, noch schnell in die Presbyterianische Kirche eingetreten, damit man ihm nichts vorwerfen kann; bis dahin war er konfessionslos.)
Dieses Zivilregime funktioniert nur dann, wenn die Bevölkerung selber substantiell christlich ist. Darum ist jede Demokratie heute, die das Zivilregime in diesem Sinne adoptieren oder durchführen will, in die Kampfposition gegen die Ideologien gedrängt. Das heißt, es kann in einer solchen Demokratie nicht zugelassen werden, daß ideologische Parteien – antichristlicher und antiphilosophischer Art – nennenswerte Minoritäten oder gar Majoritäten sind. Bestehen solche Bedenken, dann muß sehr energisch mit Parteiverboten zugegriffen werden. Das geschieht nun in verschiedenen westlichen Ländern verschieden intensiv. Man kann heute sagen, daß die Vereinigten Staaten das Land sind, in dem der Kommunismus so unten durch ist, daß es nie jemand sozial wagen darf, in irgendeiner kommunistischen Richtung den Mund aufzumachen, ohne sich damit sofort zu ruinieren. Dieser Zustand, in dem das Zivilregime gegenüber dem stärksten Feind optimal funktioniert, besteht nun leider nicht überall. Sie sehen die großen kommunistischen Parteien in Frankreich und in Italien; Sie sehen die sehr starken kommunistischen Minoritäten in England; Sie wissen, daß es auch in Deutschland noch einiges sehr Marxistisches gibt. Aber immerhin in dem Land, das für den Zusammenhalt der westlichen Zivilisation und ihrer Ordnung heute das militärtechnisch wichtigste ist, ist das Ideologiebewußtsein auf das Intensivste vorhanden. Auf das Intensivste ist das Bewußtsein da, daß das Zivilregime auf der Unterdrückung antichristlicher Ideologie beruht. Wenn das nicht möglich ist, dann funktioniert es eben nicht. Es handelt sich dann darum, zur Erhaltung einer europäischen Ordnung – wenn sie nicht der einen oder anderen Ideologie in die Hände fallen soll – die Ideologien zu unterdrücken und in der Bevölkerung diesen christlichen Geist lebendig zu erhalten, der ein Zivilregime möglich macht. Das ist die eine große Aufgabe.
Zweitens bedarf es einer sehr energischen Besinnung der Kirchen. Die Situation, die infolge der Kirchenspaltung entstanden ist – die Trennung von Staat und Kirche – ist nicht erfreulich. Denn die Kirchen haben einiges zu geben. Sie sind ja die Hüter des "depositum fidei"; sie sind die Verwalter der Offenbarung und ihrer Theologie und sind leider in eine Situation geraten, in der sie nicht zu Unrecht angegriffen werden. Das, worauf es heute ankommt und was von seiten der Kirchen völlig klargestellt werden müßte, ist erstens: ein Selbstverständnis ihres Theologisierens und ein Ablegen der letzten Reste von Fundamentalismus in der Theologie. Denn solange diese Reste nicht abgelegt sind, wird es Millionen von intelligenten Leuten, von Intellektuellen, geben, die das Kind mit dem Bad ausschütten und eine Interpretation theologischer Dogmen, die fundamentalistisch geführt wird, oder eine Bibelinterpretation, die fundamentalistisch geführt wird, in toto ablehnen. Denn der Fundamentalismus ist unerträglich. Eine Philosophie der Mythologie und des Dogmas ist eine wesentliche Bedingung für die sozialwirksame Weiterexistenz der Kirchen, um auf der neuen Ebene wissenschaftlicher Durchdringung solcher Problematik konkurrenzfähig zu sein. Die Kirche darf nicht ein intellektuelles Ghetto werden, doch sie ist in dieser Gefahr; ich spreche jetzt von beiden Kirchen. Hier ist eine große Problematik, für die herzlich wenig getan wird, wenn sie auch allgemein heute schon Theologen und Klerikern bewußt ist.
Drittens gibt es das Problem einer Restauration des Philosophierens; es ist insofern ein äußerst schwieriges Problem, weil es in der Philosophie völlig frei zugeht. In der Kirche gibt es immerhin noch die Problematik des Dogmas und der Kirchenorganisation, die dahinter steht. Philosophie aber vollzieht sich in freiem Einzelphilosophieren; man kann Philosophie nicht organisieren. Doch auch die Philosophie befindet sich in sehr bösem Zustande; sie ist heute nicht mehr rational, sondern ein sehr großer Prozentsatz dessen, was heute unter Philosophie geht, ist Gnosis, ist ideologische Massenbewegung der einen oder anderen Sorte, ist Positivismus, ist gnostischer Hegelianismus oder dergleichen mehr. Es ist nicht Philosophie im rationalen Sinne, in dem die Autonomie der Vernunft zur Sprache käme. Der Mißkredit, in den die Philosophie gefallen ist, ist daher mindestens ebenso berechtigt, wenn nicht berechtigter als der Mißkredit, in den die Kirchen geraten sind, weil sie ihr theologisch-intellektuelles Problem vernachlässigt haben. Auch hier ist reichlich zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen.
Das größte Problem, vor dem wir heute stehen, ist nicht, daß keine Ansätze vorhanden wären oder daß sie nicht ausgebaut werden können, sondern daß ihre Sozialwirksamkeit verhindert wird. Lassen Sie mich abschließend ein Wort über diese Frage sagen.
Ich würde sagen, die größte Gefahr für eine lebensfähige Restauration europäischer geistiger Ordnung sind die Massenkommunikationsmittel: die Presse, der Rundfunk, das Fernsehen, die illustrierten Zeitschriften usw. Und zwar deshalb, weil sie – wie ein eiserner Vorhang – die Bevölkerung in der breiten Masse von allem, was geistige Problematik der westlichen Welt ist, abtrennen. Niemand hat Zugang zu dem, was heute in der westlichen Welt vorgeht. Das wird nun nicht nur dadurch erzielt, daß wichtige philosophische Werke, wichtige Ereignisse in der Theologie verschwiegen werden – das wird auch getan; es wird auch dadurch erzielt, daß es einfach nicht zur Kenntnis genommen wird. Es wird auch nicht immer dadurch getan, daß es abfällig beurteilt wird – obwohl auch das reichlich vorkommt. Sie können es in der täglichen Buchbesprechung der "New York Times" regelmäßig lesen: Sobald ein Buch gut ist, wird der Besprecher darauf schimpfen, weil es für den Durchschnittsleser, der sowas gerne lesen möchte – abends nach dem Cocktail – zu schwierig ist. Er wird also entmutigt, so ein Buch in die Hand zu nehmen. Sobald ein Buch gut ist, wird es heruntergerissen. Man kann schon fast sagen, wenn in der täglichen Buchbesprechung der "New York Times" ein Buch heruntergerissen wird, dann ist es vielleicht wert gelesen zu werden, weil es möglicherweise gut ist.
Das Ärgste – und am schwierigsten zu beseitigen – ist die Massenproduktion der Kommunikation: über Gutes und Schlechtes wird gleichmäßig berichtet. Man nennt das Objektivität, wenn man über alles berichtet; und da es sehr viel mehr Schlechtes als Gutes gibt, wird, wenn alles gleichmäßig besprochen wird und jedes einzelne Stück für sich den gleichen Raum bekommt, das Gute eben verschwinden. Also gerade wenn Massenvermittlung für eine überreiche Produktion an geistigen Produkten – ob es nun Bücher, Bilder oder Musikwerke sind –, wenn eine überreiche Kommunikation vorhanden ist, die alles als Reizmittel anbietet, dann ist das fast ebenso gut wie eine radikale systematische Zerstörung. Man kann dann überhaupt nichts mehr erfahren.
Wie dieses Problem organisatorisch zu lösen ist – wie zum Beispiel der Durchschnittsmensch, der nicht gerade professionell mit solchen Dingen zu tun hat, jemals herausfinden soll, wer unter zeitgenössischen Philosophen lesenswert ist und wen er lesen sollte –, das weiß ich nicht. Durch die Kommunikationsmittel, die dem Durchschnittsmenschen zur Verfügung stehen – die gewöhnlichen Magazine, die Tageszeitung, usw. , kommt er an die Probleme nicht heran und kann nicht herausbekommen, was es heute Bedeutendes gibt – und es gibt sehr viel Bedeutendes. Hier sehe ich das Haupthindernis organisatorischer Art für eine Wiederbelebung: Daß das, was vorhanden ist und sich entwickeln könnte, im Massenbetrieb – zwar nicht immer bösartig, sondern durch das reine Gewicht der Massenkommunikation, die Schlechtes und Gutes gleichmäßig behandelt – erstickt wird.
© 2002 Eric-Voegelin-Archiv, Ludwig-Maximilians-Universität München
© Die Eric-Voegelin-Gesellschaft, Occasional Papers, April 1996
© Peter J. Opitz, 2002